Yeah, well, you know, that's just, like, your opinion, man.
The Dude
Cineworx
Von Sandro Danilo Spadini
Für die junge Generation muss das wie ein Märchen aus Utopia klingen, eine dieser leidigen Desinformationskampagnen des Kremls womöglich: Zu Beginn der Siebzigerjahre hatte die Kommunistische
Partei Italiens einen Wähleranteil von sage und schreibe 25 Prozent und eine Million Mitglieder. Und das war erst der Anfang. Wie das Politdrama «Berlinguer: La grande ambizione» minutiös nachzeichnet, wird bis zur Mitte des Jahrzehnts jeder dritte
Italiener kommunistisch wählen; in Napoli sind es 35 Prozent, in Torino und Cagliari gar 40 Prozent, in Perugia 41 Prozent, in Genova irgendwann fast 50 Prozent, und selbst als Reagan und
Thatcher sich anschicken, auch noch den allerletzten Rest an sozialem Zusammenhalt abzuholzen, bleibt der Wähleranteil zunächst konstant. Nirgendwo sonst im westlichen Block kommt eine
kommunistische Partei auf solche Zahlen. Das Weisse Haus ist schon mal kräftig alarmiert – Stichwort Dominoeffekt. Aber auch Moskau beäugt den Erfolg der italienischen Genossen mit Argwohn.
Denn das, was sie da in Rom betreiben, ist nicht die reine Lehre, nennt sich «Eurokommunismus» und propagiert einen pluralistischen, demokratischen Sozialismus, in den auch andere politische
Kräfte eingebunden sind und in dem die Freiheit des Individuums sakrosankt ist. Es ist eine sanfte Revolution, umgesetzt mit Bedacht und Geduld und angetrieben von einem höflichen, fast
schüchternen, melancholisch wirkenden und stets leicht gebückt gehenden Mann von kleiner, hagerer Statur, der mit seinen Reden über die Einheit des Volkes und den Weg dorthin freilich die Massen
zu begeistern weiss: dem aus Sardinien stammenden Enrico Berlinguer, von 1972 bis 1984 Sekretär des Partitio Comunista Italiano (PCI) und bis zum heutigen Tag einer der populärsten Politiker, die
Italien je hatte. Als er im Amt verstarb, säumten eineinhalb Millionen Menschen die Strassen Roms.
Der «Historische Kompromiss» mit Aldo Moro
«Berlinguer: La grande ambizione» kommt exakt zehn Jahre nach der überaus sehenswerten Doku «Quando c’era Berlinguer» des zum Filmemacher avancierten vormaligen italienischen Spitzenpolitikers
Walter Veltroni. Und er kommt zu einer Zeit, in der wir es schon gar nicht mehr wagen, in politischen Dingen zu hoffen. Berlinguer hingegen liess Italien, zumal das linke, träumen, liess auch
bürgerliche Politiker daran glauben, dass eine Beteiligung des PCI an der Regierung nicht dem Untergang des Abendlands gleichkommen muss. Denn dieser gebrechliche Intellektuelle strebte das an,
was unter dem Begriff «Historischer Kompromiss» in die Geschichtsbücher eingehen sollte: eine pragmatische Zusammenarbeit mit den seit 30 Jahren regierenden Christdemokraten von Aldo Moro und dem
Partitio Socialista Italiano, die tiefgreifende Reformen von Wirtschaft und Gesellschaft nach sich ziehen und autoritären Tendenzen vorbeugen sollte. Damit es dazu kommen konnte, galt es für den
PCI nicht nur, sich von den terroristischen Brigade rosse abzugrenzen, sondern auch von der sowjetischen Linie. Wie ernst es ihrem führenden Kopf mit Letzterem war, zeigt schon die erste Szene
des Films: Da wird Berlinguer (Elio Germano) vom bulgarischen Staatschef Todor Schiwkow wort- und gestenreich wegen des von ihm propagierten eurokommunistischen Wegs in den Senkel gestellt und
für sein Vertrauen in die liberale Demokratie gerügt. Der Gast hört aufmerksam der Übersetzung des bulgarischen Dolmetschers zu und sagt sodann höflich, aber bestimmt: «Das ist Ihre Meinung. Und
wir respektieren sie.» Eine Widerrede, die dem Kreml-hörigen Schiwkow dermassen in den falschen Hals kommt, dass er – so suggeriert es der Film, und so spekuliert auch Berlinguer selbst
– den Konvoi des störrischen Italieners auf dessen Weg zum Flughafen in einen «Unfall» mit einem Lastwagen verwickeln lässt. Doch Berlinguer reagiert auf diesen Schock mit der ihm eigenen
Art: Noch im Krankenhaus in Sofia schreibt er für ein kommunistisches Wochenmagazin drei Artikel, die den «Compromesso storico» umreissen, den Historischen Kompromiss. Und einschüchtern lässt er
sich sowieso nicht: Auch mit Breschnew wird er sich anlegen in einer der aufsehenerregendsten Reden, die jemals in der Sowjetunion gehalten wurde – eine der Schlüsselszenen des Films, der
lediglich die (Hoch-)Zeit des PCI von 1973 bis 1978 umfasst, mit dem Sturz von Salvador Allende in Chile und der Ermordung Aldo Moros durch die Brigade rosse als Eckpunkte, eine Zeit also, als
Menschen, die die Welt verändern wollten, gefährlich lebten. «Er solle vorsichtig sein», wird Berlinguer denn auch einmal geraten. Und die Bedrohungen, die sind in der Tat mannigfach: Der Terror
von rechts wie links, von den Faschisten und den Roten Brigaden, ist eine ganz reelle Gefahr; die Scharmützel aus der Wirtschaft und aus konservativen Kreisen zielen derweil weniger auf seine
Person als auf die Sabotage seiner zweifelsohne hehren politischen Ziele, indem sie auch mittels Kulturkampfs die Gesellschaft und gerade die Arbeiterschaft zu spalten suchen.
Und sie skandieren: «Enrico! Enrico! Enrico!»
Es ist eine ungeheure Menge an Fakten und Namen, die der aus dem Dokfach kommende Regisseur Andrea Segre in die zwei Stunden Laufzeit von «Berlinguer: La grande ambizione» packt – für
Nicht-Italiener und Nicht-Historiker ist das keine geringe Herausforderung. Und auch intellektuell verlangt der Film einem einiges ab, wenn er ausgiebig aus den Schriften und Reden seines
Protagonisten zitiert. Gleichsam zur illustrativen Auflockerung streut Segre immer wieder körnige Archivaufnahmen ein; und für die Szenen, die den Familienmenschen Berlinguer in den Fokus rücken,
verlässt er das Zentrum der politischen Macht auch einmal und entführt uns an den Strand von Sassari, der sardischen Heimat des 1984 im Alter von nur 62 Jahren an den Folgen eines Schwächeanfalls
verstorbenen «Reformkommunisten». Auch in diesen Momenten freilich ruht das politische Genie nicht; selbst mit seinen Kindern, die älteren wie Teile der kommunistischen Basis ihm durchaus
kritisch gestimmt, diskutiert er über seinen Weg, auf den er auch die katholische Kirche mitnehmen will, diesen Prozess, der keine Waffengewalt vorsieht, über seine grosse Ambition, die sich auf
den Parteigründer Antonio Gramsci beruft und untrennbar mit dem Gemeinwohl verbunden sei. Die Ambition, die Spirale aus Wut, Angst und Gewalt zu stoppen, die die italienische Gesellschaft immer
tiefer ins Chaos zu stürzen droht, und die fundamentale Unzufriedenheit zu lindern, indem die «automatischen Mechanismen des Markts» hinterfragt werden. Und die Massen folgen ihm dann auch: «È
ora di cambiare!», skandieren sie – Zeit für einen Wandel. Und dann: «Enrico! Enrico! Enrico!» Doch dieser Wandel, er wird an den Widerständen scheitern, die sich von allen Seiten erheben,
von den Bürgerlichen, den Konservativen, den Faschisten, den Fundamentalisten, den Roten Brigaden, den Andreottis, den Agnellis. Die Euphorie wird der Ernüchterung weichen. Aber Berlinguer wird
weitermachen, wird das machen, was er seit 30 Jahren tut: auf der gleichen Seite stehen, der richtigen Seite. Und er wird dabei stets höflich und hoffnungsfroh bleiben. So wie der Film, der
keinen Zweifel daran lässt, auf welcher Seite er steht und wo er Berlinguers Platz in der italienischen Geschichte sieht. Grosse Ambitionen sind auch ihm nicht abzusprechen. Denn in seiner
nüchternen Inszenierung, die indes auch mit Schauwerten nicht gänzlich geizt, verschreibt er sich total seinem Protagonisten. Er gibt sich geschäftig, wie es Berlinguer stets ist, die Kamera ist
wie dessen Gefühlslage oft fahrig, der Ton delikat wie die Konstitution dieses kleinen grossen Mannes, die Musik melancholisch wie der Blick des rationalen Träumers. 15 Nominierungen für den
Premio David di Donatello, den wichtigsten Filmpreis Italiens, sind der gerechte Lohn für diese fesselnde, faszinierende Geschichtslektion; der überragende Elio Germano durfte den Preis zum
bereits sechsten Mal entgegennehmen, für Nebendarsteller Roberto Citran (als Aldo Moro) reichte es immerhin für eine Nominierung, Andreotti-Darsteller Paolo Pierobon hätte eine solche fraglos
ebenso verdient. Wobei man sich mit so etwas Profanem wie Preisen und Pokalen bei einer solch bedingungslosen Ehrerbietung eigentlich nicht aufhalten sollte. Enrico Berlinguer hätte es sicherlich
nicht getan. Er hatte anderes vor. Wichtigeres im Sinn. Von Grösserem geträumt.