Die Rückkehr nach Lynchville

Mit dem verwirrenden wie faszinierenden Geniestreich «Mulholland Dr.» kehrt David Lynch nach seinem Ausflug in beschauliche Gefilde wieder an den Ort zurück, den er am besten kennt: die dunkle Seite der menschlichen Seele.

 

von Sandro Danilo Spadini

«We live inside a dream», sagt Agent Jeffries in «Twin Peaks – Fire Walk with Me», David Lynchs leider oft unterschätztem Prequel zur TV-Serie «Twin Peaks». In einem Traum befindet sich auch Fred Madison (bzw. sein Alter Ego Pete Dayton) in Lynchs epochalem Meisterwerk «Lost Highway», und ebenso ergeht es schliesslich Diane (bzw. ihrem Alter Ego Betty) in «Mulholland Dr.», dem neusten Werk des «Zar des Bizarren».

Abgründe und Träume

Nach seinem so langsamen wie schönen Roadmovie «The Straight Story», dessen Story für einmal wirklich «straight», d.h. geradlinig, war, kehrt David Lynch mit «Mulholland Drive» nach «Lynchville» zurück, jener – wie Jeffrey in «Blue Velvet es ausdrückt – «strange world», die zwar seltsam sein mag, doch bloss vordergründig fremd ist. Es sind die Abgründe, die dunklen Seite der menschlichen Seele, die Lynch seit je faszinieren; es ist eine Welt, die jeder kennt, der sich mit seinen innersten Ängsten auseinander setzt; es ist eine Welt, die scheinbar keinen zeitlichen und logischen Gesetzen gehorcht und gerade deshalb beinahe beängstigend realistisch ist, da sie exakt so funktioniert, wie unsere Fantasien – und noch viel mehr – unsere Träume funktionieren. Bei David Lynch sind dies zumeist Träume, die als Wunschträume beginnen und in dem Moment, wo die Realität ihre überlegene Macht ausspielt und wieder ihr hässliches Haupt erhebt, als Albträume enden.

Unter der Oberfläche

Leicht zugänglich waren die Filme des David Lynch noch nie. Selbst die linear erzählten Geschichten wie etwa «Blue Velvet» waren selten das, was sie, oberflächlich betrachtet, zu sein schienen (denn immer liegt bei Lynch etwas – meist Ungutes – unter der Oberfläche verborgen). «Lost Highway» hingegen war aufgrund temporaler und kausaler Ungereimtheiten ohne geeignete Lesart nicht einmal ansatzweise zu entschlüsseln. Ebenso verhält es sich mit «Mulholland Dr.», wobei die narrative Ausgestaltung hier gar noch konsequenter (und somit komplexer) ist: Die ersten zwei Stunden des Films sind ein Traum, beinahe alle Identitäten sind vertauscht, und die zahlreichen losen Enden, die auch daher rühren, dass «Mulholland Drive» ursprünglich als Pilot zu einer TV-Serie gedacht war, werden erst in der letzten halben Stunde verknüpft. Wer den Film mit der seltsamen Logik, nach der Träume funktionieren, liest, wird ihn bis zu einem gewissen Grade verstehen. Dass Lynch wirklich alle losen Enden verknüpft, wird sich wohl bloss dem erschliessen, der sich den Film ein zweites Mal ansieht. «Mulholland Drive» ist jedoch nicht bloss ein weiterer überaus faszinierend erzählter Lynch-Film, dessen technisch perfekte Bilder einem den Atem stocken lassen und bisweilen auch zu rauben vermögen. Darüber hinaus ist er eine Reise durch das bisheriges Oeuvre des 56-Jährigen, wovon auch zahlreiche Selbstreferenzen zeugen. «Mulholland Dr.» ist womöglich Lynchs authentischster und vollkommenster Film – der definitive Lynch-Film vielleicht, in jedem Fall aber das Werk eines der grössten Regisseure der Filmgeschichte und eines der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler: ein Gesamtkunstwerk.