von Sandro Danilo Spadini
Er ist gebildet, eloquent, charismatisch – und vollkommen verrückt: Hannibal Lecter ist eindeutig der populärste Bösewicht der jüngeren Filmgeschichte. Als Regisseur Michael Mann sich 1986
anschickte, den Roman «Red Dragon» auf die Leinwand zu bringen, blieb ihm offenbar das Potenzial dieser von Thomas Harris erschaffenen Figur noch verborgen. Nur gerade zwei Szenen gönnte er dem
Menschen fressenden Psychiater in seiner Adaption «Manhunter» (siehe Kasten). Kein Vorwurf an Mann jedoch, schliesslich spielte «Hannibal the Cannibal» auch in Harris‘ Romanvorlage bloss eine
Nebenrolle. 16 Jahre und zwei Romanverfilmungen später ist Lecter so berühmt wie Norman Bates, und folgerichtig musste ihm in der Neuverfilmung erhöhte Aufmerksamkeit zuteilwerden. Im Zentrum von
«Red Dragon» steht aber weiterhin der ebenso geniale wie psychisch labile FBI-Agent Will Graham, der mit Hilfe seines einstigen Gegenspielers Lecter einem brutalen Serienkiller auf die Spur
kommen will.
Werkgetreue Adaption
Derweil sich «Hannibal»-Regisseur Ridley Scott mit einer äusserst schwachen Romanvorlage herumzuschlagen hatte, konnte Brett Ratner auf eine packende Story zurückgreifen. Mit Ted Tally stand ihm
zudem der Mann zur Verfügung, der auch schon das Oscar-gekrönte Drehbuch zu «The Silence of the Lambs» schrieb. Mit seinem Skript zu «Red Dragon» erweist sich Tally nun abermals als Könner.
Im Gegensatz zu Mann hält er sich aussergewöhnlich eng an Harris‘ Vorlage, wobei die wenigen Abweichungen gar als Bereicherung zu werten sind. So gehen zwar Lecters raffiniert eingeflochtene
Extraauftritte ein wenig zulasten der im Roman vielschichtigeren Figur Graham, doch macht dies der wie immer grossartige Edward Norton mit seinem nuancierten Spiel zu einem guten Teil wieder
wett.
Grossartige Besetzung
Die Darsteller sind denn auch der zweite Trumpf in Ratners Ärmel. Nach seiner lustlosen Performance in Joel Schumachers «Bad Company» geht Anthony Hopkins in seiner Lieblingsrolle als Hannibal
wieder entschieden motivierter zu Werke. Über Ralph Fiennes sagte eine deutsche Kritikerin einmal treffend, dass er noch in den emotional aufwühlendsten Situationen so dreinschaue, als ob er
gerade an seine Steuererklärung denke. Als irrer Killer jedoch überzeugt der Brite endlich einmal auf ganzer Linie und bietet die vielleicht beste Leistung seiner Karriere. Harvey Keitel, Emily
Watson und der herrliche Philip Seymour Hoffman komplettieren schliesslich die Traumbesetzung. Was Regisseur Brett Ratner («Rush Hour») angeht, so steht nach wie vor der Beweis aus, dass aus ihm
dereinst ein Grosser wird. Immerhin ahmt Ratner, dem mit Dante Spinotti der Kameramann von «Manhunter» zur Seite stand, in einigen Einstellungen gekonnt den Stil von Michael Mann und Jonathan
Demme nach und verzichtet ansonsten auf eine ähnlich opulente und prätentiöse Inszenierung, die Ridley Scott in «Hannibal» zum Verhängnis wurde. Zwar erreicht «Red Dragon» nicht die
atmosphärische Dichte von Manns ganz auf Achtzigerjahre-Chic getrimmtem Original, doch weckt er nicht bloss in puncto Handlung, sondern auch optisch (gute) Erinnerungen an «The Silence of the
Lambs». Und so ist Rattner letztlich ein absolut würdiger Schlussakt der Hannibal-Lecter-Trilogie gelungen.