Flotte Bienen und rauchende Kanonen

Das Filmmusical «Chicago» ist ein stimmungsvoller, perfekt choreografierter, kurzweiliger Filmspass, der Tempo, Witz, klasse Darsteller und 13 Nominierungen für den Oscar hat.

 

von Sandro Danilo Spadini

Die grosse Zeit des Filmmusicals ist natürlich längst vorbei, doch nichtsdestotrotz wird auf der Kinoleinwand auch heute noch regelmässig gesungen, getanzt und gesteppt, was das Zeug hält. In den letzten Jahren wagten so unterschiedliche Regisseure wie Woody Allen («Everyone Says I Love You», 1996), Alan Parker («Evita», 1996), Tim Robbins («Cradle Will Rock», 1999), Lars von Trier («Dancer in the Dark», 2000), François Ozon («8 femmes», 2002) und Baz Luhrman («Moulin Rouge», 2002) einen Ausflug in das immer wieder totgesagte Genre. Mit dem Choreografen Rob Marshall erscheint nun ein im Filmbusiness eher unbeschriebenes Blatt auf der Bildfläche, dessen auf Bob Fosses gleichnamigem Broadway-Musical basierendes Debüt «Chicago» all die durchaus gelungenen Projekte der letzten Jahre in den Schatten stellt.

Mördermiezen und Winkeladvokaten

Eingebettet in 14 klassische Swingnummern erzählt «Chicago» die Geschichte des naiven Möchtegernstarlets Roxie Hart (Renée Zellweger), die wegen Mordes an ihrem Liebhaber im Knast landet. Dort trifft sie auf ihr grosses Vorbild, die berühmt-berüchtigte Diva Velma Kelley (Catherine Zeta-Jones), welche ihre Schwester um die Ecke gebracht hat. Mittels des unschlagbaren Winkeladvokaten Billy Flynn (Richard Gere), der einmal mehr den grossen Reibach wittert, hoffen die beiden von Schuldgefühlen gänzlich freien Mördermiezen, wieder auf freien Fuss zu kommen. Als Roxie dank Flynn zum neuen Medienstar von Chicago aufsteigt, entbrennt zwischen den zickigen Königinnen des Knast ein erbitterter Konkurrenzkampf. Letztlich müssen beide aber einsehen, dass das ganze Gezänk um Zuneigung und Zaster müssig ist, zumal im Chicago des Jahres 1929 Ruhm schneller verblasst als anderswo und nichts so uninteressant ist wie der Mord von gestern.

Unterhaltung pur

Bob Fosse brachte «Chicago» 1975 an den Broadway, zu einer Zeit also, als das mit den warholschen 15 Minuten Berühmtheit noch nicht im heutigen Ausmass abzusehen war. Dass Medienfarcen bisweilen von der Realität ein- und überholt werden, konnte man bereits anhand von Filmen wie Fellinis «Ginger e Fred» (1986) oder Ron Howards «EDtv» (1999) beobachten. Auch das Szenario, das «Chicago» entwirft, wirkt heute nicht mehr sonderlich absurd. Regisseur Rob Marshall lässt es sich denn auch nicht nehmen, genüsslich den ganzen Medienwahn zu sezieren, wobei er dies nicht grimmig, sondern mit einem Augenzwinkern tut; schliesslich möchte Marshall nicht in Kulturpessimismus machen, sondern unterhalten – und das gelingt ihm ganz ausgezeichnet. «Chicago» ist pures Entertainment der Spitzenklasse und hat alles, was ein Filmmusical braucht: beschwingte Musik, trockenen Witz, grandiose Darsteller, flottes Tempo, atemberaubende Choreografie und perfektes Timing. «Chicago» ist ein durchaus klassisches Musical, das sich ganz der grossen Zeit dieses Genres verpflichtet fühlt. Für Originalität und Experimente wie beim knallig-bunten «Moulin Rouge» ist hier kein Platz, doch fade ist das trotzdem zu keiner einzigen der 113 Minuten. Marshall ist ein kurzweiliger, stringenter, optisch eher düsterer, ganz die Stimmung der Chicagoer Halbwelt der 20er-Jahre verströmender Spass gelungen.

Renée oder Nicole?

Den Golden Globe in der Sparte Musical/Comedy und ein weiteres Dutzend andere mehr oder minder wichtige Preise hat «Chicago» bereits eingespielt, eingetanzt und eingesungen. 13 Oscar-Nominierungen lassen diesbezüglich auf noch mehr hoffen. Nicht weniger als vier Darsteller aus dem tollen Ensemble, welches in toto mit respektablen Gesangs- und Tanzdarbietungen aufwartet, könnten am 23. März im Kodak Theatre zu Hollywood zu Ehren kommen. Nebst den in den Nebendarsteller-Kategorien nominierten Queen Latifah, Catherine Zeta-Jones und John C. Reilly darf sich vor allem auch Renée Zellweger Hoffnungen auf einen der begehrten Goldjungen machen. Nichts gegen Julianne Moore («Far from Heaven»), Diane Lane («Unfaithful») und Selma Hayek («Frida»), doch das Rennen um die Nachfolge von Halle Berry wird sich wohl zwischen Zellweger und Nicole Kidman («The Hours») entscheiden, die beide bereits im Vorjahr nominiert waren. Und der Oscar in der Hauptkategorie Bester Film dürfte «Chicago» ohnehin nicht zu nehmen sein. Eine Schande wäre dies jedenfalls nicht.