von Sandro Danilo Spadini
Die Motive dieses Films sind so alt, dass sie nicht bloss einen langen und weissen, sondern gar schon einen verfilzten und etwas übel riechenden Bart haben: In einer stürmischen Nacht sucht eine
Reihe von Menschen in einem abgelegenen, von einem reichlich suspekten Manager geleiteten Motel Zuflucht – Norman Bates schielt linkisch durch ein Loch in der Wand. Ein psychopathischer, sich
wohl unter den Gästen befindender Killer macht sich einen makabren Spass daraus, das selbstredend zehn Leute umfassende Personal nach und nach zu dezimieren – Agatha Christie sendet freundliche
Grüsse. In einer finalen Wendung wird alles zuvor Geschehene in ein absolut neues, weit komplexeres und einer völlig anderen Ebene zugehöriges Licht getaucht – David Lynch, ick hör dir trapsen.
Wie man aus all diesen schon etwas ranzigen Zutaten einen simplen und doch subtilen, einen klassischen und doch cleveren, einen massentauglichen und doch meisterhaften Thriller auf die Leinwand
zaubert, das macht Regisseur James Mangold mit «Identity» vor.
Intelligentes Drehbuch
Mangold hat sich bislang als zuverlässigerer Lieferant von Qualitätsware und vor allem als Glücksfall für die schauspielende Fraktion erwiesen: In seinem berührenden Debüt «Heavy» liess er die
damals noch unbekannte Liv Tyler in hellem Glanze erstrahlen; dank dem ausgezeichneten Korruptionsthriller «Cop Land» ist Sylvester Stallone dem Kinogänger mittlerweile auch als ganz passabler
Schauspieler bekannt; mit dem soliden Drogendrama «Girl, Interrupted» verhalf er Angelina Jolie zu einem Oscar und mit der netten Fantasy-Komödie «Kate & Leopold» Hugh Jackman immerhin
zu einer Golden-Globe-Nominierung. In seinem neusten Projekt «Walk the Line» wird schliesslich aller Voraussicht nach Joaquin Phoenix in die Rolle des grossen, inzwischen leider mit Gott und dem
Teufel an einem Tisch sitzenden Johnny Cash schlüpfen, was schon einmal verdächtig nach «And the Oscar goes to...» oder zumindest «And the nominees are...» klingt. «Identity» tanzt diesbezüglich
ein wenig aus der Reihe, zumal hier trotz prominenter Besetzung mit John Cusack, Ray Liotta, Amanda Peet oder der aus der Versenkung auferstandenen Rebecca DeMornay weniger die – wie sich weisen
wird: aus gutem Grund – etwas stereotypen Figuren als vielmehr Handlung und Spannung im Vordergrund stehen. Mangolds neuster Streich ist kein «Schauspielerfilm», sondern in erster Linie ein
vordergründig den Konventionen und Traditionen des Whodunnit-Genres folgendes, letztlich aber weit hintergründigeres und kopflastigeres Kinojuwel, das sich ganz auf sein fabelhaftes, mit durchaus
gewitzten Dialogen gespicktes Drehbuch verlässt.
Geistreich und bravourös
«And Then There Were None» von René Clair setzte im Jahr 1945 immer noch gültige Massstäbe als erste und bis heute beste Verfilmung von Agatha Christies gleichnamigem, auch unter den politisch
weniger korrekten Titeln «Ten Little Niggers» bzw. «Ten Little Indians» erschienenem Krimi, der mit seinen dem Kinderreim «Zehn kleine Negerlein» folgenden Morden und dem an Spannung kaum zu
überbietenden Rätsel um die Identität des Mörders eines der unvergessensten Thrillermotive begründete. Bemerkenswert erfolglos versuchte zuletzt Max Makowski mit der billigen Videopremiere
«Taboo» dieser Konstellation neue Reize abzugewinnen. Mangold schafft nun genau dies, indem er zunächst mit einer ausgesprochen altmodischen, betont düsteren, gleichzeitig aber fast schon
ironischen Inszenierung blufft, um dann bereits eine halbe Stunde vor Schluss einen überaus gewagten, weit über den Thriller-Tellerrand hinaus blickenden «twist» folgen zu lassen, auf welchem er
gar noch weiter aufzubauen versteht, ohne seine Story an Reiz und Nervenkitzel einbüssen zu lassen. Es ist ein cineastisches Vabanquespiel, das Mangold mit dieser ungewöhnlichen Konzeption
eingeht, und es ist ein Spiel, das er dank des letztlich spektakulären, seinesgleichen suchenden Drehbuchs von Michael Cooney mit sparsamen Mitteln, mit Geist und mit Bravour gewinnt.