von Sandro Danilo Spadini
Es ist die Zeit, in der in den USA die Heuchlerei, die Bigotterie endgültig die Oberhand gewinnen und ein grotesk irrationaler Sturm der Entrüstung über das Land fegt. Es ist die Zeit, in der
über Praktikantinnen, Zigarren und die Definition von Sex diskutiert wird. Es ist die Zeit, in der aus Bill Willie und aus dem Oval Office das Oral Office wird. Es ist 1998, und dem 71-jährigen
ehemaligen Literaturprofessor Coleman Silk wird in einem von Kleingeistern bevölkerten Kaff in Neuengland wegen seiner Affäre mit einer nicht einmal halb so alten Putzfrau erneut der Prozess
gemacht, nachdem er zwei Jahre zuvor wegen einer vermeintlich rassistischen Bemerkung in einem kollektiven Rausch von stumpfsinniger Political Correctness seines Amtes enthoben worden ist und
kurz darauf seine Frau verloren hat. Coleman Silk also, der brillante Intellektuelle, der ehemalige Amateurboxer, dessen Leben auf einer absurden Lüge beruht.
Zu wenig Kühnheit
Erzählt wurde die Geschichte des Coleman Silk, diese leidenschaftliche Anklage gegen die amerikanische Doppelmoral, diese verwegene Auseinandersetzung mit der Rassenfrage, von Philip Roth im
Roman «The Human Stain» (Der menschliche Makel),
und erzählt wurde diese Geschichte derart meisterhaft, dass sich die Kritiker vor rund drei Jahren in seltener Einmütigkeit zu einer ehrfurchtsvollen Laudatio auf den inzwischen 70-jährigen
Altmeister zusammenfanden, die selbst den Hollywood-Bossen zu Ohren kommen musste. Wenngleich eine filmische Umsetzung des nicht zuletzt von seiner sprachlichen Raffinesse, seiner komplexen, von
gleichsam fieberhaft-unvermittelten Perspektivwechseln geprägten narrativen Struktur lebenden Stoffs nicht zwingend opportun schien, hat sich Regieroutinier Robert Benton («Kramer vs. Kramer»)
angeschickt, das virtuos verwobene Konstrukt zu entwirren, um daraus weniger ein Destillat oder Konzentrat zu gewinnen, sondern vielmehr sich einzelnen Komponenten zu bedienen, die er zu einer
zwar fundierten, bisweilen aber auch gar langatmigen und allzu dialoglastigen Charakterstudie zusammenfügte. Benton, der zuletzt 1998 mit dem gemütlich-altmodischen Krimi «Twilight» den erst
neunten Film seiner rund 30-jährigen Karriere ins Kino brachte, hat gar nicht erst versucht, der Brillanz und Komplexität der Vorlage gerecht zu werden; er ist dieser vermessenen, ja anmassenden
Versuchung nicht erlegen, könnte man sagen – um sich gleichzeitig aber zu fragen, was ein etwas mutiger, ein etwas kühnerer Regisseur wohl zu Stande gebracht hätte. Denn seinem Film mangelt es
nicht bloss an der schroffen, unverblümten Direktheit von Roths Roman, die zugunsten eines äusserst ruhigen, mitunter zu betulichen Erzählstils aufgegeben wird, es mangelt ihm stellenweise nicht
bloss am sozialkritischen Moment, an den raffinierten Verknüpfungen, es mangelt ihm vor allem an der Leidenschaft. Letztlich zu kühl, zu blutleer, zu zahm und zu schlicht ist das alles, als dass
die Figuren einen für sich einnehmen könnten.
Hopkins und Kidman
Bentons beinahe vollständig auf die Figuren fokussierende Version von «The Human Stain» ist aber natürlich eine überaus geeignete Profilierungsplattform für das schauspielende Personal,
namentlich für Anthony Hopkins und Nicole Kidman. Hopkins spielt diesen Coleman Silk mit der seelenruhigen Souveränität des alternden Ausnahmekönners, dem mittlerweile allerdings ein wenig der
Enthusiasmus abzugehen scheint, der ihm in seiner besten Zeit in den Neunzigern – als pflichtbeflissener Butler in James Ivorys warmherzigem Drama «The Remains of the Day», als von Dämonen
getriebener US-Präsident in Oliver Stones unterschätztem Meisterwerk «Nixon» und natürlich als von jeglichem Anflug der Selbstparodie noch freier Hannibal Lecter – seinen glänzenden Ruf
eingebracht hat. Kidman hingegen, die für Benton bereits 1991 im Flop «Billy Bathgate» vor der Kamera stand, beweist erneut ihre Wandlungsfähigkeit und ihren Mut, auch in optisch weniger
vorteilhafte Rolle zu schlüpfen. Doch selbst Nicole die (wahrhaft) Grosse kann nichts daran ändern, dass mit «The Human Stain» ein weiteres Mal aus einem meisterhaften Roman ein bloss
ordentlicher Film entstanden ist.