von Sandro Danilo Spadini
Gross war die Spannung, als im Mai letzten Jahres in Cannes Vincent Gallos zweiter Regiestreich «The Brown Bunny» über die Leinwand flimmerte. Denn nach dem viel gelobten Erstling «Buffalo ’66» liess sich das als Enfant
terrible verschriene Multitalent fünf Jahre Zeit für das Abliefern einer weiteren Kostprobe seines (vermeintlichen?) Könnens. Und alle Zügel wiederum fest in Gallos Hand: Hauptrolle, Regie,
Produktion und auch sonst alles. Gelohnt hatte sich das Warten freilich nicht – und irgendwie doch: Künstlerisch – nach damaliger Ansicht der Mehrheit der beruflich Kritischen – wohl auf ganzer
Linie enttäuschend, sorgte «The Brown Bunny» von allen Wettbewerbsbeiträgen nämlich für den meisten Gesprächsstoff. Auslöser für die allenthalben gesichteten hochroten Köpfe war die Schlussszene
des Films, in der Gallo oral befriedigt wird – in echt und unverhüllt und nicht von einer berüchtigten Pornomieze, sondern von der Independent-Ikone Chloë Sevigny, die Gallo schon seit
Teenager-Zeiten kennt und dem Vernehmen nach auch mit dem kleinen Vincent zuvor schon Bekanntschaft gemacht hat.
Grosse Aufregung
Geblasen bekommen hat Gallo danach vor allem den Marsch, und zwar von den Kritikern. Diese konnten natürlich der Versuchung nicht widerstehen, einem aufgeblasenen und von sich selbst
eingenommenen Schnösel wie dem stets nach allen Seiten Gift und Galle spuckenden Gallo einmal eins aufs Dach zu geben. Dass der eine oder andere dabei ein wenig überzog – zu lesen war etwa vom
schlechtesten Cannes-Beitrag aller Zeiten -, überrascht auch nicht wirklich. Es setzte schliesslich ein reichlich gehässiges und ziemlich amüsantes Austauschen von Scharmützeln und Verbalinjurien
zwischen Gallo und der schreibenden Zunft ein, während die Aufregung um Sevignys Blaskonzert auch abseits dieses Gefechts bisweilen geradezu groteske Züge annahm. Die Frage nach einem triftigen
Grund für den Griff in die Pornoschublade oder gar eine Rechtfertigung dafür scheinen zwar eher müssig, aber bitte: Ist die Szene künstlerisch notwendig? Na ja. Oder aber versuchte Gallo mit der
Aussicht auf einen skandalträchtigen Abschluss seines wahrlich nicht sehr ereignisreichen Films die Leute bei der Stange zu halten? Gut möglich. Oder wollte der selbstgefällige Narziss einfach
auch noch mit seiner zugegebenermassen stattlichen Männlichkeit prahlen? Sehr gut möglich. Wie dem auch sei. Die Provokation ist Gallo jedenfalls geglückt, und das war es ja wohl, was er in
erster Linie bezweckt hat.
Nicht jedermanns Sache
Selbstredend ist es im Prinzip unerhört und respektlos, dass die ganze Diskussion über den Film sich nur um diese eine Szene drehte. Aber: Viel mehr war da wohl nicht. Das sah offenbar auch Gallo
selbst ein und verzog sich nach Cannes nochmals in den Schneideraum. Zutage förderte er eine um rund 30 Minuten gekürzte Version, die aber immer noch mit Inhalt geizt: Wir sehen einen Mann auf
seiner Reise quer durch die USA. Dem Mann geht es nicht so gut. Wir ahnen: Liebeskummer. Und das wärs im Grossen und Ganzen. Gallo zeichnet zwar auch für Drehbuch und Schnitt verantwortlich, doch
zu schreiben und zu schneiden gab es da im Grunde nicht allzu viel: Es wird kaum gesprochen, und die Kamera läuft und läuft und läuft. Zumeist funktioniert das so: Kamera hinter der
Windschutzscheibe aufstellen, ein bisschen Musik auflegen, und ab geht die Fahrt. Ein Film im engeren Sinne ist das eigentlich nicht. Vielmehr würde man so etwas im Nachtprogramm unter dem Titel
«Die schönsten Autostrecken Amerikas» erwarten. Und trotzdem entwickelt das Ganze, sofern man das Gehirn ausschaltet und sich treiben lässt, mit der Zeit vielleicht nicht gerade einen Sog, aber
doch einen gewissen Reiz. Auf ausgeglichene Menschen mag «The Brown Bunny» denn auch durchaus meditativ wirken, derweil unruhigeren Zeitgenossen ob des ganzen Nichts bald einmal der Geduldsfaden
reissen dürfte. Insgesamt aber ist Gallos Zweitling – nicht zuletzt eingedenk der Klasse von «Buffalo ’66» – schon eine mittelgrosse Enttäuschung, da im Tempo zu behäbig, inhaltlich zu sperrig
und formal zu angestrengt-anstrengend. Ein Desaster ist das freilich nicht, aber letztlich wohl doch ziemlich ausschliesslich etwas für Filmstudenten und dergleichen.