von Sandro Danilo Spadini
Etwas Hypnotisches, Entrücktes umgibt die ersten Minuten von «Mysterious Skin». Auch etwas Unbehagliches, Verstörendes. Und natürlich etwas Geheimnisvolles, Mysteriöses. Es ist dies zunächst
einmal die Geschichte eines Sommers, eines verhängnisvollen, schicksalsbestimmenden Sommers zu Beginn der Achtziger, gesehen durch die verklärenden Augen zweier bestialisch ihrer Unschuld
beraubten Kinder, erzählt von ebendiesen, aus der Distanz, mit einem Abstand von zehn Jahren. Doch das ist nur der Anfang, die Exposition, von der aus die Geschichte selten spektakulär, immer
berührend ihren Gang nehmen wird. Das Hypnotisch-Mysteriöse wird einem bald harten, bald zarten Realismus weichen, wenn die beiden Kinder zu Teenagern auswachsen und sich in gänzlich
unterschiedliche Richtungen entwickeln werden. Nicht weichen wird das Unbehagliche, noch weniger das Verstörende. Denn dies ist eine Geschichte, die es einem trotz ihres frischen, unverbrauchten,
ja bisweilen sogar unbeschwerten, frechen Erzähl- und Inszenierungsstils nicht leicht machen wird. Kann sie nicht. Will sie nicht.
Finale Konfrontation
Doch zurück zum Anfang, ins Jahr 1981. «Im Sommer, als ich acht Jahre alt war, sind fünf Stunden meines Lebens einfach verschwunden», berichtet der linkische Brian. Als Letztes kann er sich daran
erinnern, dass er bei einem Baseballspiel auf der Auswechselbank sass. Regen. Spielabbruch. Getümmel. Dann das schwarze Loch. Brian kommt im Keller seines Elternhauses wieder zu sich. Die Nase
blutet. Keine Erinnerung. Von nun an ist alles anders in Brians Leben. Und es wird immer anders bleiben. Blackouts. Nasenbluten. Verwirrung. Auch mit 18 ist Brian noch davon überzeugt, dass er
damals von Aliens entführt wurde, dass an ihm herumexperimentiert wurde. Seine Realitätsflucht hat ihn im diffusen Bereich des Paranormalen ankommen lassen. Ganz anders Neil: Er weiss, dass sich
jemand an ihm vergriffen hat, und er verübelt dies dem zwar unmenschlichen, aber gewiss nicht ausserirdischen Täter keineswegs. Neil ist, so impliziert der Film, quasi schwul geboren worden; die
– von ihm auch zehn Jahre später nicht als solche empfundene – Misshandlung durch seinen gott- oder vielleicht vatergleich verehrten Baseball-Coach (Bill Sage) hat ihn höchstens an die obskuren
und schmutzigen Stellen des anderen Ufers geleitet. Dort verdingt er sich mittlerweile als Stricher und gibt sich dergestalt durchaus vergnügt den ihm die Taschen füllenden und ihn mit so etwas
wie Stolz erfüllenden Beziehungen zu älteren Männern hin. Erst als er von seiner übersichtlichen Heimatstadt in Kansas nach New York aufbricht, erkennt und erfährt der Kruppstahl-harte Neil – in
zwei der in ihrer Zartheit respektive Rohheit prägendsten Szenen des Films – die Risiken und Gefahren seines Tuns, wird er erstmals mit AIDS und Gewalt konfrontiert. Die Auseinandersetzung mit
der Vergangenheit steht ihm derweil noch bevor; sie ist dem aufwühlend und doch so gelassen geschilderten Ende, gleichsam dem Epilog der Geschichte, vorbehalten, wenn Neil endlich Brian
gegenübersteht und ihm die fünf verschwundenen Stunden erklärt.
Perspektive des Opfers
Basierend auf dem Roman von Scott Heim und inszeniert von Gregg Araki («Nowhere»), dem reifer gewordenen Bad Boy der Gay-Underground-Szene der Neunziger, erzählt «Mysterious Skin» das Drama ganz
aus der Perspektive der Opfer – und erinnert insofern nur in seiner inszenatorischen Leichtigkeit (und Brillanz) und aufgrund gelegentlicher humorvoller Brüche an Todd Solondz’ erfolgreich
gratwanderndes Meisterwerk «Happiness». Kein Interesse hat der Film trotz natürlich unmissverständlicher Position an der Verurteilung des Täters; er will kein Moralstück sein und hält solcherlei
– zu Recht – für müssig. Plakatives Gebaren ist ihm fremd, und auch die von Araki sonst so innig geliebte Provokation hat hier ungeachtet des nicht gerade konventionellen Ansatzes kaum etwas zu
suchen. Authentisch und beherzt gespielt von Brady Corbet (Brian) und Jospeh Gordon-Levitt (Neil) in den Hauptrollen sowie insbesondere auch von Michelle Trachtenberg als Neils «Seelenverwandte»
Wendy, packt «Mysterious Skin» sein heikles Thema ohne Samthandschuhe zwar, aber geschmackssicher und aufrichtig, auf blitzgescheite und psychologisch fundierte Weise an. Dass das «Premiere
Magazine» hier von einem der besten Filme des Jahres spricht, darf man denn auch ruhig so stehen lassen.