von Sandro Danilo Spadini
Filmbiografien, sogenannte Biopics, liegen derzeit voll im Trend: Nach dem Makedonenkönig Alexander in Oliver Stones gleichnamigem Heldenepos, dem US-Magnaten Howard Hughes in «The Aviator» und
«Peter Pan»-Autor J. M. Barrie in «Finding Neverland» erwachen nun bzw. demnächst auch die Sänger Ray Charles in «Ray» und Bobby Darin in «Beyond the Sea» (von und mit Kevin Spacey) sowie der Sexualwissenschaftler Alfred Kinsey (in Person von
Liam Neeson) auf der Leinwand zu neuem Leben. Während sich ein Regisseur mit solchen Biopics erfahrungsgemäss auf dünnem Eis bewegt und sich schon mal gehörig in die Nesseln setzt, sonnen sich
die jeweiligen Darsteller in aller Regel auf der Gewinnerseite. Ein Blick auf die Liste der Oscar-Nominierungen der jüngeren Vergangenheit verdeutlicht dies eindrücklich: Mit Geoffrey Rush
(«Quills»), Ed Harris («Pollock»), Javier Bardem («Before Night Falls»), Russell Crowe («A Beautiful Mind»), Will Smith («Ali»), Adrien Brody («The Pianist»), Julia Roberts («Erin Brockovich»),
Judi Dench («Iris»), Nicole Kidman («The Hours»), Salma Hayek («Frida») und Charlize Theron («Monster») gehörten in den vergangenen vier Jahren gleich elf «Porträtisten» zu den Oscar-Aspiranten
in den Hauptdarsteller-Kategorien; von den entsprechenden Regisseuren guckten derweil immerhin sieben in die Röhre.
Lineare Geschichte
Zu beobachten ist dieses Phänomen auch in diesem Biopic-lastigen Jahr wieder – namentlich bei «Finding Neverland» und «Hotel Rwanda» mit den nominierten Protagonisten Johnny Depp und Don Cheadle
und den leer ausgehenden Regisseuren Marc Forster und Terry George. Frohe Gesichter vor und hinter der Kamera gibt es unterdessen beim Dreamteam Scorsese/DiCaprio mit «The Aviator» und bei «Ray»;
in letzterem Fall ist die Entscheidung der Academy freilich fragwürdig. Ganz viele Hüte ziehen muss man vor Hauptdarsteller Jamie Foxx, der für seine Rolle in Michael Manns «Collateral» auch noch
in der Nebenrollen-Kategorie nominiert wurde und dem der Oscar für «Ray» kaum zu nehmen sein wird. Wie der frisch gebackene Golden-Globe-Gewinner hier Präsenz markiert und buchstäblich zu Ray
Charles wird, ist schlicht magistral. Foxx allein ist es indes, der dieser ansonsten etwas blutleeren und allzu sehr auf pragmatische, hinreichend erprobte Strategien setzenden Produktion ein
Herz und eine Seele gibt. Regisseur Taylor Hackford («The Devil’s Advocate») ist es seinerseits nämlich nicht gelungen, unter einer optisch eleganten Oberfläche fesselnden Drive und einnehmende
Verve zu entwickeln; zudem scheitert er beim Versuch, die tragischen Aspekte im Leben der im Alter von sieben Jahren erblindeten Soullegende adäquat zu vermitteln. In wunderhübsch gefilmten
Rückblenden versucht Hackford zwar redlich, den auch den erwachsenen und erfolgsgewohnten Charles noch immer heimsuchenden Dämonen der Vergangenheit ein Gesicht zu geben, die gewünschte Wirkung
vermag er dabei jedoch nicht zu erzielen. Und immer, wenn ihm nichts mehr einfällt, muss oder vielmehr darf sich Foxx hinters Piano setzen, auf dass Charles’ unsterbliche Musik aus den
Lautsprechern erschallt. Auch nach zweieinhalb Stunden «Ray» fällt es folglich immer noch schwer, hinter die Fassade des im Juni 2004 verstorbenen Künstlers zu blicken und dessen dunkle Seiten zu
verstehen. Wenigstens aber macht sich Hackford nicht schwärmerischer Lobhudelei verdächtig. Ganz im Gegenteil: «Ray» ist ein durchaus differenziertes Biopic, das seinem Protagonisten einerseits
grundsätzlich wohlgesinnt ist und ihn als Sympathieträger in Szene zu setzen versteht, sich andererseits aber nicht scheut, unvorteilhafte Dinge in den Fokus zu stellen.
Schlichtes Denkmal
Eine allumfassende Biografie ist «Ray» indes mitnichten. Abgesehen von den Rückblenden in die schwere Kindheit deckt Hackford lediglich die Zeit von 1948 bis 1966 ab, in welche Charles’ Aufstieg
zum Superstar, aber auch seine Heroinsucht fallen. Dass Hackford trotz dieser Beschränkung rund 150 Minuten benötigt, um seine im Grunde doch sehr linear und darob mässig spannend verlaufende
Geschichte – Charles wird immer erfolgreicher und immer süchtiger – zu erzählen, erstaunt schon etwas. Ein gewisses Verdichtungspotenzial ist hier gewiss vorhanden gewesen, wenngleich so
tendenziell einige immer wieder gerne gehörte Charles-Hits auf der Strecke geblieben wären. Ungeachtet dessen und eines Mangels an Mut, Kühnheit und Beherztheit hat Hackford letztlich aber
grundsolide Arbeit geleistet, aus der ein unspektakuläres Denkmal für das Jahrhundertgenie Ray Charles resultiert ist. Um den Glanz ist freilich der unumstritten tonangebende Jamie Foxx besorgt,
der aus «Ray» ein noch lange nachhallendes Kinoerlebnis macht.