von Sandro Danilo Spadini
Am 2. Oktober 2001 ist es so weit. Die Kassandrarufe bestätigen sich, vollmundige Worte erweisen sich als Lippenbekenntnisse, und Linguisten notieren die Aufnahme eines neuen Anglizismus in den
Allgemeinwortschatz des Durchschnittsschweizers: Grounding. Die Swissair bleibt am Boden, ist am Boden zerstört, ist «mutwillig zerstört worden» (Moritz Leuenberger) von Leuten, die die
Bruchlandung des fliegenden Flaggschiffs ihrer Nation und das Weinen und Kochen der Volksseele bloss mit einem selbstgerechten Schulterzucken quittieren werden. Wer vergessen hat, wie diese Leute
heissen, der sollte sich nun Michael Steiners «Grounding – Die letzten Tage der Swissair» anschauen: Hier wird mit ganz unschweizerischer Ausdrücklichkeit Verantwortung zugewiesen.
Wer sich demgegenüber bloss ein Bild eines beispiellosen wirtschaftspolitischen Ränkespiels machen will, der sollte sich «Grounding» ebenfalls anschauen: Hier wird bis hin zu den jüngsten
Entwicklungen bei der Swiss mit ganz schweizerischer Akribie eine vollumfängliche Chronik der Ereignisse geliefert. Und wer schliesslich einfach nur einen verdammt guten Film geniessen will, der
sollte sich «Grounding» erst recht anschauen: Hier wird gezeigt, was die Schweiz in Sachen Film wirklich draufhat.
Dutzende Handlungsträger
Der Take-off zu Pilot Steiners Flug in den Olymp des Schweizer Films gestaltet sich so, wie es sich für einen Take-off gehört: rau und holprig. Eingeleitet wird mit einem rund siebenminütigen
dokumentarischen Abriss der Vorgeschichte zum Swissair-Crash, bestehend aus Fernseh-Archivmaterial, beginnend mit dem Schweizer EWR-Nein von 1992. Nach der Vorspannsequenz ist «Grounding» aber
bereits mit Überschallgeschwindigkeit unterwegs: Wiederum flashartig, nun aber filmisch geschildert werden Philippe Bruggissers Absetzung, das 44-tägige Intermezzo von Moritz Suter (László I.
Kish) als Swissair-CEO, Eric Honeggers Demission. In nützlicher Frist wird ein rundes Dutzend Handlungsträger eingeführt, reale aus Politik und Wirtschaft wie UBS-Chef Marcel Ospel («Lüthi &
Blanc»-Bösewicht Gilles Tschudi), Ex-CS-Boss Lukas Mühlemann (Rainer Guldener) oder Alt-Bundesrat Kaspar Villiger (Walter Hess) sowie fiktive: eine mit privaten Sorgen kämpfende Flight Attendant
(Stephanie Japp), ein in der Vergangenheit schwelgender Flugzeugmechaniker (Hans Heinz Moser) oder ein im Familienkonflikt gefangener italienischer Gate-Gourmet-Koch (Enzo Scanzi). Der Kurs ist
vorgegeben: Erzählt werden soll das Swissair-Drama aus allen möglichen Blickwinkeln.
Schnallen Sie sich an
Raus aus den heftigsten Turbulenzen gerät der Film dann mit der Installierung von Mario Corti (Hanspeter Müller-Drossaart) als neuem starkem Mann bei der längst im Sinkflug begriffenen Airline.
Doch wer glaubt, nun seinen Sitzgurt lösen zu müssen, ist schlecht beraten. Das Tempo bleibt hoch, der Ton verschärft sich, die Spannung steigert sich ins Atemlose. Es wird brodeln, pulsieren,
beben. André Dosé (Michael Neuenschwander) und Jacqualyn Fouse (Katharina von Bock) werden an Bord kommen; die Machtkämpfe werden eskalieren; Egoismen werden überhand nehmen; Loyalitäten werden
sich verschieben; Köpfe werden rauchen und rollen; Nerven werden flattern und endlich blank liegen; Idealismus wird gegen Zynismus und Opportunismus ankämpfen; die Arroganz der Macht und des
Kapitals wird einen nach der Kotztüte greifen lassen; der schwarze September 2001 mit 9/11 und dem Amoklauf von Zug wird einen erschaudern lassen; Anekdoten aus der Swissair-Geschichte werden
einen nostalgisch machen; die persönlichen Dramen werden sich zuspitzen und sich nahtlos ins Gesamtbild fügen. Und die zunächst konfus anmutende Konzeption wird sich bewähren: Steiner erzählt
seine faktengetreue, mit unschmeichelhaften Porträtierungen nur so gespickte Geschichte nicht geradlinig, er umkreist sie auf seiner halsbrecherischen Gratwanderung zwischen Fakt und Fiktion,
zwischen Film- und Archivaufnahmen in bisweilen fragmentarischen Sequenzen, zieht den Kreis immer enger, bis der sich gegenüber dem «nationalen Heiligtum» Swissair so respektvoll wie Steiner
zeigende Mario Corti nicht mehr anders kann, als zu sagen: «I’m so sorry.» Was durchaus im Desaster hätte enden können – das permanente Nebeneinander von Schauspielern und ihrem realen Gegenüber
–, erweist sich auch dank eines bärenstarken Ensembles als Winner-Strategie. Müller-Drossaart: brillant. Kish: brillant. Von Bock: brillant. Die Liste liesse sich beliebig fortsetzen. Mit «Mein
Name ist Eugen» hat Michael Steiner unlängst eine schmackhafte Kostprobe seines Könnens abgeliefert; doch im Vergleich zu «Grounding», diesem Zeugnis mutigen, makellosen, meisterhaften
Filmemachens, diesem Zeitdokument von hohem, von unschätzbarem Wert, war dies eine nonchalante Fingerübung.