von Sandro Danilo Spadini
War es die Schwäche der Konkurrenz? Waren es die spektakulären Schauwerte? Oder war es am Ende doch eine temporäre Erregung über die ziemlich zünftigen Sexszenen, die die Jury der Filmfestspiele
von Venedig Anfang September dazu bewogen hat, Ang Lees Drama «Lust, Caution» (im Original: «Se, jie») mit dem Goldenen Löwen auszuzeichnen? Es bleibt fraglich, wie es zu Lees zweitem
venezianischem Triumph innerhalb nur dreier Jahre kommen konnte. Und jedenfalls bleibt ebendieser Entscheid fragwürdig, zumal es sich hier mitnichten um das angekündigte Meisterwerk handelt,
sondern vielmehr um eine in epische Länge gezogene, unausgegorene Mischung aus erotischer Liebesgeschichte und leidlich packendem Spionagethriller vor bildgewaltiger historischer Kulisse,
namentlich angesiedelt im japanisch besetzten Schanghai der frühen Vierzigerjahre. Dort wandelt die aus Hongkong stammende Theaterschauspielerin Wang Jiazhi (Tang Wei) unter dem Decknamen «Frau
Mak» auf den Spuren der Jahrhundertspionin Mata Hari und lockt als politisch motivierte Femme fatale den mit den Japanern kollaborierenden chinesischen Chefbeamten Yee (Tony Leung) in eine
bittersüsse Falle.
Vernachlässigte Figuren
Bevor er jedoch das zunächst nur angedeutete Geflecht aus Sex, Verrat und Revolution vor unseren bald weit aufgerissenen, bald halb geschlossenen Augen ausbreitet, führt uns der
taiwanischstämmige und amerikanisch ausgebildete Meisterregisseur Ang Lee («Brokeback Mountain») zurück in die Dreissigerjahre, zurück nach Hongkong. Die Person, die wir hier antreffen, hat
freilich noch nichts am Hut mit der kultivierten, selbstsicheren und ideologiebewussten Frau Mak. Und sie wird im Verlaufe der stattlichen 158 Minuten Laufzeit mit dieser auch nicht zu einer
Person verschmelzen. Die Verwandlung der schüchternen Wang Jiazhi in Frau Mak vermag die ansonsten ein beachtliches Debüt gebende Tang Wei nämlich nicht nachvollziehbar zu machen. Allerdings ist
dieses Versäumnis vor allem der sich mehr um Optik und Atmosphäre kümmernden Regie und dem ohnehin einigermassen unkonzentrierten Skript anzulasten. Jedenfalls scheinen weder Lee noch die
Drehbuchautoren Wang Hui-Ling und James Schamus ein allzu lebhaftes Interesse an den Figuren zu haben. Anders lässt sich die Ansammlung von Stereotypen, die sich gerade im revolutionären Umfeld
tummeln, wohl kaum erklären. Und auch für die enttäuschende Leistung des aus den Wong-Kar-Wai-Filmen «In the Mood for Love» und «2046» bekannten asiatischen Starmimen Tony Leung muss es einen
tieferen Grund geben; wie dieser selbst noch bei der grenzpornografisch dargestellten und mitunter recht rauen Bettakrobatik seinen steifen Stoiker-Gestus wahrt, hat beinahe etwas
Belustigendes.
Formvollendet ohne Ende
Was «Lust, Caution» zur wirklichen Enttäuschung macht, sind aber weniger die Figuren- und Personalprobleme als nachgerade widersinnigerweise die Vorsicht und die Zurückhaltung, mit der Lee hier
zu Werke geht. Zu reden gaben und geben zwar vor allem die gewalttätigen und die erotischen Ausbrüche; der ganz grosse leidenschaftslose Rest, in welchen diese jeweils völlig untermittelt
hereinplatzen, ist jedoch formvollendete und nicht enden wollende Langeweile. Dass dem eine Kurzgeschichte zugrunde liegen soll, mutet fast schon wie ein mieser Witz an, ergibt eingedenk der
dürren Handlung aber natürlich schon Sinn. Dass es Lee nicht schafft, einen zu packen und für die zeitgeschichtliche Relevanz des Dargestellten zu sensibilisieren, kann allenfalls noch mit
kulturellen Unterschieden begründet werden. Das kühle Desinteresse, mit dem man den emotionalen Turbulenzen und den kriminellen Verstrickungen begegnet, ist derweil unverzeihlich. Und dass
ausgerechnet der Grobmotoriker Paul Verhoeven jüngst in dem wilden, seltsam verführerischen Filmgemälde «Black Book» eine weit tauglichere, weil erhellendere und spannendere Mischung aus Erotik-
und Zweitweltkriegsdrama bewerkstelligt hat, muss dem feingeistigen Ang Lee eigentlich zu denken geben.