Die Dame im Stausee

Dem aufwendig produzierten und stimmungsvoll fotografierten Mystery-Thriller «Marmorera» werden Skriptschwächen und das Spiel seines hölzernen Hauptdarstellers zum Verhängnis.

 

von Sandro Danilo Spadini

Die geografischen und auch historischen Voraussetzungen wären im Grunde genommen ideal, doch irgendwie will das mit den Mystery-Thrillern aus den naturgewaltigen und sagenumwobenen Schweizer Landen einfach nicht so recht klappen. Sogar der grosse Fredi M. Murer hat sich vor acht Jahren mit seiner haarscharf gescheiterten Grossproduktion «Vollmond» an diesem Genre manchen Zahn ausgebissen; und dem TV-erprobten Zürcher Markus Fischer («Tatort») ergeht es nun mit dem ebenfalls nicht gerade mit Wechselgeld gefertigten und von ähnlich hohen Ambitionen beseelten Streifen «Marmorera» auch nicht besser – eher schlechter sogar. Motiviert und selbstbewusst auf der neuen Schweizer Film-Welle surfend, hat sich Fischer beim Ausholen zum grossen Wurf anders als Murer deutlich an amerikanischen und vor allem japanischen Vorbildern orientiert und so zu einer Bildsprache gefunden, die ganz auf Stimmung und Spektakel setzt. Trotz des einen oder anderen Kamera-Kabinettstückchens zu viel und einigermassen dilettantischen Spezialeffekten ist ihm damit ein Film gelungen, der sich in seinen besten Momenten immerhin in visueller Hinsicht vor nichts und niemandem zu verstecken braucht.

Die Luft entweicht

In schroffem Gegensatz zur formalen Könner- und bisweilen Meisterschaft stehen freilich das etwas unfertig wirkende Drehbuch von Fischer und Dominik Bernet sowie das ungelenk theatralische Spiel von Hauptdarsteller Anatole Taubman in der Rolle des aus Marmorera stammenden Zürcher Psychiaters Simon Cavegn. Die dadurch evozierten Unebenheiten und Holprigkeiten auszugleichen vermag die anfangs mit gutem Timing aufwartende, alsdann aber zusehends in Aktionismus verfallende Regie leider Gottes bloss im Prolog. So schafft sie es zwar im Nu, das von kauzigen Berglern und mythischen Typen bevölkerte Feld zu bestellen und eine dichte Atmosphäre des Geheimnisumwitterten herzustellen. Nachdem aber die von Cavegn und seiner Frischangetrauten (Mavie Hörbiger) im Marmorera-Stausee entdeckte Scheintote (Eva Dewaele) einmal in die Psychiatrische Universitätsklinik von Zürich eingewiesen worden ist, entweicht die kühle Luft allmählich. Nun türmen sich die bis zum Ende vergebens der Auflösung harrenden Ungereimtheiten, ob welchen Cavegn mit der Zeit den Verstand, der geneigte Betrachter indes bald einmal die Geduld zu verlieren droht.

Herkömmliches Schauerstück

Blindlings in die teuflische Logikfinsternis rasend, überspannt die Regie den Spannungsbogen schliesslich derart, dass ihr des Zuschauers Interesse am zunehmend einsturzgefährdeten Kartenhaus-ähnlichen Konstrukt von einer sich von hinten anschleichenden Ermüdung streitig gemacht wird. Mehr und mehr zur Freakshow verkommend und auf das Niveau herkömmlicher Schauerstücke runterfahrend, lockt die vom Schweizer Jugend-Sinfonie-Orchester kompetent begleitete «Ghost Story» nunmehr in erster Linie mit der in Abzählreim-Manier gestalteten Inszenierung der bizarren Unglücke, denen die Bewohner Marmoreras nach und nach und offenbar aus bestimmten Gründen zum Opfer fallen. Das vermeintlich zur Verhandlung stehende Thema der Identitätssuche und des Identitätsverlusts rückt derweil weit in den blutbespritzten Hintergrund und schliesslich fast gänzlich in Vergessenheit. Feilgeboten wird stattdessen ein bereits früh preisgegebener und lediglich karg umrissener Lösungsansatz, der wohl wenigstens die Motivation der Geschehnisse klärt, letztlich aber vorgeschoben wirkt und überdies kaum Verblüffung entlockt. Derartiges hat «Marmorera» freilich gerade mit den japanischen Vorbildern gemein, und es liegt dies bis zu einem gewissen Grade halt auch in der Natur des Genres begründet, was zu beklagen also müssig ist. Gleichwohl muss bemängelt und bedauert werden, dass das nicht geringe Potenzial des Stoffes nur in viel versprechenden Ansätzen ausgeschöpft wurde. Schade auch, dass die in recht flüssigem Bündnerdeutsch parlierenden hiesigen Schauspielgrössen Stefan Gubser, Patrick Frey und Mathias Gnädinger in – notabene reizvollen – Nebenrollen versteckt wurden; Leute dieser Kragenweite hätten in prominenteren Parts vielleicht das eine oder andere Ungemach abwenden können. So aber bleibt ein wundervoll fotografierter und stimmungsvoll inszenierter Hybrid zurück, den man sich nur mit langmütigem und vom Lokalkolorit befeuertem Wohlwollen schönreden kann: ein gut gemeinter Versuch, helvetische Historie und klassische Mythologie mit traditionellem und fernöstlichem Genrekino zu kreuzen.