von Sandro Danilo Spadini
Gross war der Rummel nach der Lancierung von «Fahrenheit 9/11» vor rund drei Jahren. Und auch wenn das umstrittene Werk die Wiederwahl Bushs und also sein erklärtes Ziel nicht erreichte und sein
Schöpfer Michael Moore in der Folge als omnipräsenter Linkspopulist ein wenig ins Zwielicht geriet, war das Rendement beeindruckend: Weltweit spielte der Film über 220 Millionen Dollar ein;
Michael Moore stieg zum Chefdiagnostiker der amerikanischen Gesellschaft auf; und eingedenk des zeitgeschichtlichen Werts von «Fahrenheit 9/11» übersah sogar die Jury bei den Filmfestspielen in
Cannes die handwerklichen Mängel geflissentlich und ehrte den Film mit der Goldenen Palme.
Krankes Gesundheitssystem
Nun hat Michael Moore das US-Gesundheitssystem untersucht und dabei vieles gleich und einiges anders gemacht. Derweil er in «Sicko» mehr Sorgfalt auf die formale Ebene verwendet hat, ist er sich darin treu geblieben, dass er sein Thema nicht
objektiv distanziert betrachtet; Moores Stärke oder, wie mans nimmt, auch Schwäche ist weiterhin der leidenschaftliche Diskurs, der recht eigentlich ein Aufzwingen seiner Meinung ist, wobei bei
jedweder Widerrede sofort mit dem Holzhammer gedroht wird. Da Moore aber ein Meister der Manipulation ist, fällt dieser Mangel an Subtilität gar nicht so auf und letztlich keineswegs negativ ins
Gewicht. Der Tonfall ist ein launiger; Galgenhumor lockert das Dogmatische auf; und die von einer suggestiv wirkenden Bilderflut beförderte Argumentation ist derart simpel und stringent, dass man
sich ihr im Grunde nur entziehen kann, indem man sich gleichsam kapitulierend auf das Grundsätzliche zurückzieht – indem man etwa Michael Moore a priori als lärmenden Linkslautsprecher
diskreditiert und sich die Ohren zustopft. Auf derlei Widerstand – und darin unterscheidet sich «Sicko» ganz wesentlich vom Vorgänger – wird der überzeugte Bart- und Baseballkappen-Träger mit
seinem neuen Pamphlet indes kaum stossen, zumal so ziemlich allen klar ist, dass beim amerikanischen Gesundheitssystem einiges, ja fast alles im Argen liegt, dass dieses sterbenskrank, wenn nicht
schon mausetot ist. Was Moore hier zeigt, ist wie viele US-kritische Doks der letzten Zeit freilich ein wahrer Horrorstreifen.
Vorbild Kuba
Dabei liefert Moore nicht einmal einen allumfassenden Blick auf sein Untersuchungsobjekt. Wie er gleich zu Beginn deklariert, geht es ihm hier gar nicht um die viel zu vielen Amerikaner, die
überhaupt nicht vom Gesundheitswesen abgedeckt sind. Vielmehr konzentriert er sich auf die Menschen mit Versicherungsschutz und darauf, wie diese von den grossen Konzernen nach Strich und Faden
beschissen werden. Was sich daraus ableitet, ist mitunter eine regelrechte Kapitalismuskritik, wie sie sich in den USA eigentlich gar nicht schickt. Selbstbewusst, wie er ist, schreckt Moore beim
weiten Ausholen zu seinem Schlag ins Gesicht der Gesundheitsindustrie aber nicht einmal davor zurück, die verfluchten kubanischen Kommunisten oder immerhin die verteufelten Franzosen als Vorbild
zu proklamieren, und tritt für die Verstaatlichung der Krankenversicherung ein. Es ist dies der einzige Ausweg aus dem amerikanischen Dilemma, den Moore präsentiert – und wie er ihn präsentiert,
hat mal wieder etwas reichlich Schlüssiges: Nachdem er mehrere Fälle von in den Bankrott oder sogar in den Tod getriebenen Amerikanern aufgezeigt hat, denen die privaten Krankenkassen unter
abenteuerlichsten bürokratischen Begründungen die ihnen zustehende Behandlung verweigert haben, begibt sich Moore im zweiten Teil des Films auf Welttournee. In Kanada, Grossbritannien sowie eben
Frankreich und Kuba findet er Bedingungen vor, die seinen Landsleuten (und auch uns!) wie just aus dem Schlaraffenland oder vielleicht Utopia importiert vorkommen müssen. Hier ist alles bezahlt,
das Personal freundlicher, die Ärzte sind besser, die Wartezeiten kürzer – Ende der Beweisführung. Gewiss mag hier einiges idealisiert werden, gewiss wird nur die eine oder werden nur eineinhalb
Seiten der Medaille gezeigt. Aber Moores Eintreten für ein sozialeres oder halt sozialistischeres Amerika hat bei aller gespielten Naivität etwas Aufrichtiges und sehr viel Richtiges.