Ein Kind verschwindet in der Vergangenheit

Der junge spanische Regisseur Juan Antonio Bayona hat «El orfanato» einen subtilen, Nervenkitzel und Gänsehaut erzeugenden Horrorthriller in der Tradition von «The Others» gedreht.

 

von Sandro Danilo Spadini

Gerade als man geglaubt hat, das Genre des Geistergeschichten-Horrorthrillers sei ob all der leidlich gehaltvollen asiatischen Produktionen und deren noch weniger wertvoller amerikanischer Remakes in einen todesähnlichen Schlaf verfallen, schleicht von Spanien herkommend der subtile Nervenkitzler «El orfanato» um die Ecke – gefertigt vom 33-jährigen barcelonischen Spielfilmdebütanten Juan Antonio Bayona und «präsentiert» vom mexikanischen Horrorfilm-Wizzard Guillermo del Toro. Letzterer Umstand scheint freilich nicht von ungefähr zu kommen, werden hier doch in Form von fantastischem Filmzauber und in Person eines imaginationsbegabten Kindes sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene Erinnerungen an del Toros Meisterwerk «Pan’s Labyrinth» geweckt. Und auch für die Tatsache, dass der bei «El orfanato» amtierende Regisseur ein Spanier ist, lässt sich prima eine filmische Verknüpfung finden. Denn grad noch mehr als an «Pan’s Labyrinth» gemahnt das hier Präsentierte mit der ob des unerklärlichen Verschwindens ihres Sohnes verstörten Mutter im Zentrum der Geschichte sowie dem bedrohlichen vormaligen Waisenhaus als Schauplatz des Geschehens an den subtilen Geisterfilm «The Others» – womit Bayona also auch auf den Spuren seines (in Chile geborenen) Landsmanns Alejandro Amenábar wandelt.

Klassische Motive

Das Aufführen von prominenten Referenzwerten – zur inszenatorischen Strategie könnte auch noch Hitchcock erwähnt werden – soll indes nicht insinuieren, Bayona sei bei seinem Erstlingswerk mangels Routine und zwecks Orientierung bloss am Abkupfern gewesen. Mitnichten hat er solches getan, wiewohl er das Rad nicht neu erfindet, sondern das existierende unter hohem filmhistorischem Bewusstsein ein gutes Stück zurückdreht und seinen Film damit in einer Zeit ankommen lässt, als in diesem Genre noch Handwerkskunst und nicht Computerskills gefragt waren. Die Gänsehaut erzeugenden Elemente sind hier, in dieser auch inhaltlich in die Vergangenheit weisenden Geschichte, entsprechend klassischer Natur: sich von Geisterhand schliessende Türen etwa oder rätselhaftes Gepolter von oben. Doch sooft man solcherlei auch gesehen haben mag, so wenig hat es an Wirkung eingebüsst. Potenziert wird diese Wirkung gar noch – wie auch die visuell, inszenatorisch und atmosphärisch vielleicht dann doch noch stimmigere Inspirationsquelle «The Others» gezeigt hat –, wenn zusätzlich zum eigenen auch der Schrecken jener Menschen, denen all das Mysteriöse direkt widerfährt, fühlbar wird. Es sind hier in anderen Worten die Darsteller gefordert, und auch diesbezüglich ist Bayona auf der sicheren Seite. Was Amenábar in «The Others» Nicole Kidman war, ist ihm die wunderbare Belén Rueda als Laura. Sie ist Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, in praktisch jeder Szene präsent, und dies in doppeltem Wortsinn. Umwerfend ist es, wie Rueda die zunehmend in (verständlichen) Wahnsinn und (vermeintliche) Halluzinationen mündende Verzweiflung der suchenden Mutter übermittelt.

Spannendes Warten

Die Rolle, die Rueda spielt, ist ebenfalls klassisch, und die Ängste, die in ihrer Figur zum Ausdruck gelangen, sind veritable parentale Urängste, namentlich vor der Verletzlichkeit und vor dem Verlust des Kindes. Sie werden zur Triebfeder der Handlung, derweil die Schockelemente zunächst lange auf sich warten lassen und sodann sehr gezielt und sparsam eingesetzt sind. Das Ausharren zu Beginn und dazwischen sorgt freilich nicht für Fadesse, sondern ist im Gegenteil beharrliches Hinwirken auf den Kulminationspunkt und somit ganz im Sinne Hitchcocks Garant für eine Maximierung der Suspense. Wie bei den meisten gelungenen Filmen dieser Art, bezieht sich die Spannung eben gerade aus solchem inszenatorischen Understatement, das heisst auch: aus dem Nichtgezeigten. Zu einer besonderen Stellung innerhalb der jüngeren Genregeschichte gelangt «El orfanato» so im Grunde durch nichts weiter als die Einhaltung der ganz einfachen Regeln, wozu auch das heutzutage fast verloren gegangene Vertrauen auf die Vorstellungskraft des Publikums gehört. Bisweilen sind die Dinge eben ganz simpel.