von Sandro Danilo Spadini
Vor rund 16 Jahren legte Sean Penn mit «Indian Runner» seine erste Regiearbeit vor. Es war dies ein ungemein viel versprechendes, ja fast fulminantes Debüt, und das wenige, das der Neo-Regisseur
dieser Talentprobe folgen liess, war dann auch von kaum minderer Güte und stellte sich sozusagen als Handschriftenprobe heraus. So verrieten auch das 1995 lancierte Drama «The Crossing Guard»
sowie die Dürrenmatt-Verfilmung «The Pledge» Penns Interesse an von Dämonen getriebenen und in Sturheit gefangenen Männerfiguren, die bisweilen Trost, bisweilen Erlösung, bisweilen Sinn und bei
alledem vor allem sich selbst suchen. Nicht anders verhält es sich nun mit dem Protagonisten von Penns insgesamt viertem Langspielfilm. In dem Aussteigerdrama «Into the Wild», beruhend auf dem Tatsachen-Erfolgsroman
von Jon Krakauer, ist es indes nicht ein alternder, vom Leben gezeichneter Mann, sondern ein jugendlicher Hochschulabgänger, der sich den Weg zum Ich zu bahnen sucht – einen ihn quer durchs Land
führenden Weg, der spektakulär und schweisstreibend sein wird und auf dem er sich immer wieder sehenden Auges den Fängen der amerikanischen Naturgewalt überlassen wird.
Das Leben eines anderen
Der dergestalt Wagemutige oder gar Lebensmüde scheint auf den ersten Blick kein allzu aussergewöhnlicher Zeitgenosse zu sein – ausser vielleicht, dass er überdurchschnittlich intelligent ist.
Doch in Christopher McCandless, überragend dargestellt vom hoch talentierten Emile Hirsch, hausen neben vielen guten Geistern auch einige dieser Dämonen, die ihn gleich nach dem Schulabschluss
weit weg von seinen seit je zerstrittenen Eltern (William Hurt und Marcia Gay Harden), fort von der Zivilisation an sich und hinein in die rohe Wildnis, schliesslich bis nach Alaska hinauf jagen
– das Ganze ohne Geld (das er gespendet hat) und ohne Ausweise (die er vernichtet hat). Erzählt ist diese Odyssee auf eher umständliche Weise, in verstückelter Form, was einem eine gewisse
Denkleistung abverlangt, sich indes als sehr effizient erweist und der Homogenität keineswegs abträglich ist. So pendelt Penns aufmerksame Linse scheinbar willkürlich zwischen der kalten
Einsamkeit Alaskas und nicht minder wuchtigen Kulissen in sonnigeren Gefilden: etwa Christophers Aufenthalt in einer Hippiekommune, wo er sich mit einem Alt-68er-Paar (Brian Dierker und die
wunderbare Catherine Keener) anfreundet; einem halsbrecherischen River-Rafting auf dem Colorado Richtung Salton Sea; einem Weizenfeld in South Dakota, wo er an der Seite eines trinkfesten
Kleinkriminellen (Vince Vaughn) als Aushilfskraft jobbt; einem Nudistencamp in Kalifornien; oder seinem temporären Zuhause bei einem pensionierten Armeeangehörigen (Oscar-nominiert: Hal Holbrook)
in der kalifornischen Wüste, der ihn quasi als Enkel adoptiert.
Wundersam wahrhaftig
Alle diese Bekanntschaften zwingen Christopher zum Nachdenken und teils Überdenken seiner (radikalen) Entscheidungen, doch gilt dies auch umgekehrt. Denn eine der grössten der vielen grossen
Stärken von «Into the Wild» ist, dass Penn seinen Protagonisten ungeachtet dessen Jugendlichkeit absolut ernst nimmt und nie kommentierend einschreitet – wobei er den sich Verlierenden freilich
nicht in ikonenhafte Höhe emporheben oder sich anbiedernd explizit dessen gelebter Zivilisationskritik anschliessen würde. So wie er auf die Kraft des geschriebenen Wortes aus der Vorlage baut,
so vertraut Penn auch auf die natürliche Macht des Abzubildenden. Anders als so mancher sich in blendender Bildgewalt ergehender Kollege vor ihm den Verführungskünsten der landschaftlichen Wucht
widerstehend und mit einer mehr für sein inszenatorisches Wirken denn für sein angriffiges Wesen typischen Bescheidenheit bedient sich der 47-Jährige gleichsam genügsam meist einer natürlichen
Bildsprache, die ohne vermeintlich verstärkendes Brimborium auskommt. Entsprechend verkommt dieses Naturspektakel nie zur «kitschig schönen Kulisse» und fügt sich stattdessen mit der inhaltlichen
Intelligenz zu einem zutiefst berührenden, hochgradig beeindruckenden Wunderwerk von wundersamer Wahrhaftigkeit.