Giulio Andreotti – das ewige italienische Rätsel

In der skurrilen Andreotti-Biografie «Il divo» setzt Regisseur Paolo Sorrentino auf kühle Ästhetik und einen fantastischen Hauptdarsteller – und überfordert das Publikum mit einer bombastischen Datenfülle.

 

von Sandro Danilo Spadini

Die Exzentrik einer Person lässt sich vielleicht auch an der Vielfalt ihrer Übernamen messen. Und wenn dem wirklich so sein sollte, dann hat Giulio Andreotti sogar jenem irritierenden italienischen Staatsoberhaupt einiges voraus, das derzeit herrscht: der Bucklige, der Fuchs, der schwarze Papst, die Ewigkeit, der Mann im Dunkeln, der Beelzebub – all das ist Giulio Andreotti. Und natürlich: «il divo». Ebendiese Bezeichnung (etwa mit «der Star» zu übersetzen) hat Drehbuchautor und Regisseur Paolo Sorrentino offenbar besonders gefallen, dient sie ihm doch als Titel seiner – bei uns leicht verspätet – zum 90. Geburtstag Andreottis erscheinenden Filmbiografie.

Eine komplizierte Sache

Dass dieses Jahrhundertleben irgendwann auf Zelluloid gebannt werden würde, hat angesichts der Unmenge an spektakulären Eckdaten etwas Schlüssiges: 7-mal war Andreotti Ministerpräsident, 21-mal bekleidete er einen wichtigen Ministerposten, 28-mal konnte er die Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität abwehren. So weit die nackten Zahlen. Doch was dieses Leben am Ende ausmacht, sind nicht die Fakten, sondern die Gerüchte, die Verstrickungen, die Legenden. Was Giulio Andreotti ausmacht, ist: das Rätsel. Um dieses zu ergründen, hat Sorrentino seinem Film einen reichlich eigenwilligen Aufbau verpasst. Der Regisseur, der seit dem Glanzstück «Le conseguenze dell’amore» zu den Hoffnungsträgern des wiederbelebten italienischen Kinos zählt, präsentiert sich hier wiederum als grosser Stilist. Sein Ding ist die kühle, mächtige und bisweilen ausufernde Ästhetik, welcher sich auch Erzählfluss und -struktur unterzuordnen haben. Die klaren Bilder kontrastieren dabei mit dem vertrackten, oft skurrilen, ja surrealen Inhalt, was sowohl zu Spannungen als auch zu Irritationen führt. Um die Sache noch komplizierter zu machen, feuert Sorrentino ein Stakkato von Namen und Daten ab, bei welchem selbst gewieften Italien-Korrespondenten schwindelig werden muss. Das bombastische Faktenmaterial ist ihm freilich nur Dekoration. Es soll gar nicht eingeordnet werden können, es soll eben gerade die Wirrnis mehren, die von seinem Untersuchungssubjekt noch heute ausgeht. Das ist zwar anstrengend und im Sinne einer Geschichtslektion unbefriedigend, gleichzeitig aber wohl konsequent. Denn Sorrentino ist kaum an einem erhellenden Streifzug durch die italienische Nachkriegsgeschichte gelegen, wie ihn Marco Tullio Giordana in seinem Wunderwerk «La meglio gioventù» vollzogen hat. In anderen Worten: Nicht so sehr Andreottis Vita interessiert ihn als vielmehr seine Persona. Insofern verfährt er da gleich wie jüngst Oliver Stone bei seiner Bush-Biografie «W.». Und wie dort ist auch bei «Il divo» Raum geschaffen worden für unerwartete Komik, die sich indes als wenig hilfreich erweist und mehr als Zeichen von Hilflosigkeit oder gar Hasenfüsigkeit gewertet werden kann: Wo man nicht mehr weiterweiss oder sich nicht hin traut, behilft man sich eben mit grotesker Überzeichnung.

Ein Fels in der Brandung

Ein Film mit derartigen Unebenheiten bedarf dringendst eines Felsen in der Brandung. Und einen ebensolchen hat «Il divo» in Hauptdarsteller Toni Servillo («Gomorra»). Dass dieser von der Festivalleitung in Locarno just den «Excellence Award» für sein Lebenswerk zugesprochen bekommen hat, muss ursächlich mit seiner Interpretation des Giulio Andreotti zusammenhängen. Nicht die Machtspiele, nicht die Mafiageschichten, nicht die Mauscheleien sind es, die diesem in Realität und Fiktion gleichermassen eintauchenden Psychogramm zum entscheidenden Erkenntnisgewinn verhelfen, sondern zuvörderst Servillos Mimik und Gestik. So simpel ist das. Ungeachtet der an Wort wie Bild sich manifestierenden (Über-)Ambitionen ist stets erkennbar, dass Sorrentino sich dessen von Beginn an bewusst war. Weil er seinem Star den nötigen Entfaltungsraum gewährt, wird denn auch das vermeintlich Unfassbare endlich fassbar. Die zentrale Frage kann (oder will?) «Il divo» indes gleichwohl nicht abschliessend beantworten: wer dieser Giulio Andreotti eigentlich ist.