von Sandro Danilo Spadini
Eine elegante Melancholie erfüllt die Szenerie. Auf der Tonspur ein sanftes Piano, eine Tischlampe hüllt den Raum in gedämpftes Licht, das Interieur dominieren warme Farben, die Kamera bewegt
sich auf Samtpfoten, der Protagonist wie in Zeitlupe. Doch dann, nur ganz kurz, eine Schockszene: eine Rückblende, roh und rau – sie zeigt eine Vergewaltigung. Es ist ein Ausbruch, ein
unvermittelter, unerhörter Ausbruch, und es ist alles andere als programmatisch für die folgenden zwei Stunden von «El secreto de sus ojos», dem argentinischen Überraschungsgewinner des diesjährigen «Ausland»-Oscars. Die Szene ist in ihrer
Rohheit und der Brüskheit ihres Aufscheinens aber nötig, reisst sie uns doch für einen entscheidenden Moment aus dieser Melancholie. Regisseur Juan José Campanella wird uns früh genug wieder in
sie entlassen, aber jetzt wissen wir, was Sache ist, und werden es nicht mehr vergessen. Wir werden nicht mehr vergessen, weshalb der pensionierte Gerichtsermittler Benjamín Esposito (Ricardo
Darín) nicht loskommt von diesem Verbrechen.
Wie bei Dürrenmatt
Benjamín hat es sich in den Kopf gesetzt, ein Buch über den 25 Jahre alten Fall zu schreiben. Es wäre sein Erstling, seine ehemalige Chefin Irene (Soledad Villamil) hält nicht viel davon. Irene
freut sich aber, Benjamín wiederzusehen. Sie schäkern, schmeicheln, scharmützeln, fast wie in alten Zeiten, besser fast als in den alten Zeiten, die keine guten Zeiten waren für sie und schon gar
nicht für ihr Land. Die Filmgegenwart ist nämlich nicht unsere Gegenwart; die 25 Jahre, die der Fall der vergewaltigten und ermordeten jungen Lehrerin Liliana Coloto zurückliegt, werfen uns ins
Jahr 1974 zurück, kurz bevor sich in Argentinien die Militärdiktatur durchsetzt. Das Politische wird nicht unerwähnt bleiben, es wird sogar eine Schlüsselrolle spielen. Doch dieser Art von
Vergangenheitsbewältigung gilt hier nicht der Fokus. In diesem steht vielmehr Benjamíns Suche nach Gerechtigkeit – eine Suche, die bis in die Gegenwart anhält, nachdem sie in der Vergangenheit
just dort vergebens geblieben ist, wo sie eigentlich erfolgreich sein müsste. Das Gericht, an dem er arbeitete, hat den Schuldigen aber davonkommen lassen, und das kann, das will Benjamín nicht
akzeptieren. Man könnte ihn besessen nennen. Man könnte ihn mit Kommissär Matthäi aus Dürrenmatts «Versprechen» vergleichen. Oder mit Detective McPherson, der sich in Otto Premingers
Noir-Klassiker «Laura» in die (vermeintlich) tote Titelfigur verliebt. Benjamín ist aber anders als Matthäi kein Wartender, und anders als McPherson gehört sein Herz nicht einer Toten, sondern
seit je einer Verheirateten.
Brillante Kameraarbeit
Die auf beiden Zeitebenen in der Luft liegende Affäre zwischen Benjamín und Irene könnte uns ablenken. Dass sie es nicht tut, liegt an Campanella. Denn er, der zuletzt vornehmlich für
US-TV-Serien arbeitete, ist ein Filmemacher von grossem Vermögen und hohem Verständnis des Kinos. Virtuos ist es, wie dicht er inszeniert und gleichwohl die Stimmung zwischen Gegenwart und
Vergangenheit nuanciert: wie er die Unmittelbarkeit der Gefühle in den Rückblenden beim Ebenenwechsel in eine ferne Schwermut überfliessen lässt. Dabei steckt in jeder Einstellung, selbst jenen,
die an amerikanische Polizeifilme angelehnt sind, viel Liebe. Kameramann Félix Monti, der schon das kleine argentinische Wunder «La niña santa» fotografierte, muss nebst dem buchstäblich wie
sprichwörtlich sehr präsenten Ricardo Darín denn auch zu den Stars des Films gezählt werden. Alleine für die unmöglich scheinende Verfolgungsszene in einem Fussballstadion gebührt ihm ein Stern
im Kinohimmel: Nachdem die Kamera über das Spielfeld auf die Zuschauerränge gesegelt ist, heftet sie sich an die Fersen des Mörders – alles wackelt und schaut trotzdem noch aus wie ein Gemälde.
Es ist dies ein Höhepunkt in einem langsam, nicht aber langatmig erzählten Film, dem trotz schwerblütiger Atmosphäre auch eine gewisse spielerische Leichtigkeit mit gelegentlichen komischen
Momenten innewohnt. Es ist einer von vielen Höhepunkten.