von Sandro Danilo Spadini
Kaum eine Figur der Neuzeit passt besser ins Beuteschema der notorischen Hollywood-Biografen als Nelson Mandela. Dass die Traumfabrik dem heute 91-Jährigen früher oder später einen Film widmen
wird, steht eigentlich ausser Frage. Clint Eastwoods «Invictus» ist dieser Film aber nicht. Denn hier werden nicht etwa die biografischen Eckdaten und die politischen Verdienste Mandelas
rekapituliert, sondern lediglich fünf Jahre seines Engagements für ein besseres Südafrika in den Fokus gestellt. Es sind dies freilich fünf entscheidende Jahre für das Land, beginnend mit
Mandelas Freilassung nach 27-jähriger Haft am 11. Februar 1990, endend mit dem Überraschungstriumph der südafrikanischen Rugby-Mannschaft an der Heim-WM am 24. Juni 1995. Und es sind dies fünf
Jahre, die – zumal in der überlegten Inszenierung Clint Eastwoods und im punktgenauen Spiel von Hauptdarsteller Morgan Freeman – ausreichend Aufschluss über die Persönlichkeit von Nelson Mandela
geben. Und so ein allenfalls angepeiltes Biopic quasi obsolet machen.
Unaufdringlich weise
Vordergründig mag eine kolossale Diskrepanz zwischen der Bedeutung der beiden Hauptereignisse des Films, seines Anfangs- und seines Schlusspunkts, ausgemacht werden. Und vordergründig mag auch
infrage gestellt werden, ob Stoff und Regisseur hier wirklich zusammenpassen. Nach den 133 flüssigen Spielminuten von «Invictus» ist man sich dann aber gerade zweierlei bewusst: was dieser
sportliche Erfolg für das ehedem geteilte Südafrika bedeutet hat und dass Eastwood der richtige Regisseur für diesen Stoff ist. Erzählt wird hier nämlich eine Geschichte, die unter Umkehrung der
Vorzeichen auf zwei Kernmotive des eastwoodschen Œuvres hinausläuft: Rache und Vergebung. Umgesetzt ist das – wie bei «Million Dollar Baby» – indes als Sportfilm relativ klassischer
Hollywood-Prägung, also als ein Triumph des Aussenseiters gegen sämtliche Wahrscheinlichkeiten und Widrigkeiten. Die gesellschaftlichen Umwälzungen in Südafrika bilden dabei bloss die Kulisse,
während der vormalige Paria Mandela frei von Rachegelüsten die Erwartungen der Schwarzen wie die Befürchtungen der Weissen unterläuft und die Rolle des genialen und noblen Strippenziehers
innehat. Als solcher weiss der frischgebackene Nobelpreisträger bereits im Mai 1994 beim Antritt des Präsidentenamts um die völkerverbindende oder vielmehr volksbildende Kraft des Sports. Das
kriselnde nationale Rugby-Team will er so denn auch nicht länger als Sinnbild der Apartheid und Feindbild der Schwarzen sehen, sondern angesichts des bevorstehenden Turniers im eigenen Land als
potenzielles Aushängeschild mit symbolhafter Vorbildfunktion für ein geeintes und versöhntes Volkes. Dies umso mehr, als er in Team-Captain François Pienaar (Matt Damon) einen Verbündeten findet,
der auf dem Spielfeld mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hat wie er selbst auf politischem Parkett. Die gedoppelte Frage nach der richtigen «Leadership» ist denn auch die essenzielle hier, und in
ihrer Beantwortung findet sich der Erkenntnisgewinn dieses unaufdringlich weisen, abermals elegant und detailliert inszenierten Werks. Die historische Akkuratesse zu diskutieren, ist derweil
müssig. Es scheint klar, dass vieles verkürzt und vereinfacht ist. Doch Eastwood ist ohnehin mehr daran gelegen, anhand teils fiktiver singulärer Episoden von mal entscheidender, mal
untergeordneter Bedeutung die grosse südafrikanische Geschichte des Jahres 1995 zu erzählen – mithin so wie er im Vertrauen auf Freemans Künste Mandelas Charakter mittels eines Schnappschusses
aus dessen Leben erklärt.
Zwei Oscar-Nominierungen
Clint Eastwood ist auch der richtige Regisseur für diesen Stoff, weil er haargenau weiss, wie er das der Geschichte inhärente Pathos dosieren muss. Und nicht zuletzt deshalb, weil er es noch bei
all seinen überlebensgrossen Geschichten verstanden hat, seine Darsteller gegen das Monumentale anspielen zu lassen und deren Enthusiasmus in derart gefühlumtoster Umgebung zu kanalisieren. Mit
Freeman und Damon sind es denn jetzt auch schon neun Schauspieler, die Eastwood in der für sein Wirken so fruchtbaren jüngeren Vergangenheit zu einer Oscar-Nominierung dirigiert hat. Wenn auch
«Invictus» nicht das beeindruckendste all seiner beeindruckenden Alterswerke ist, so zeigt der Film doch eines: Es gibt derzeit keinen souveräneren Regisseur als Clint Eastwood.