Was tun, wenns klemmt?

Sechsfach Oscar-nominierter Horrortrip an Ort und Stelle: In «127 Hours» erzählt Danny Boyle die wahre Geschichte eines Extremsportlers, der vier Tage in einer Felsspalte eingeklemmt war.

 

von Sandro Danilo Spadini

Die alte Hitchcock-Idee vom Film, der sich einzig in einer Telefonzelle abspielt, wurde von Joel Schumacher vor einigen Jahren in «Phone Booth» ja durchaus erfolgreich umgesetzt. Abgehakt ist die Grundkonstellation mit dem spartanischen Set damit indes noch lange nicht. Variationen davon haben sich gerade zuletzt wieder vermehrt in die Kinos geschlichen. Statt der Telefonzelle war es wahlweise ein Aufzug («Devil»), ein Skilift («Frozen») oder – im radikalsten Fall – ein Sarg («Buried»). Und nun ist es eine Felsspalte, in der einer ums Überleben kämpft. Mit Danny Boyle hat sich hier ausgerechnet ein Regisseur eingeklemmt, der sich seit je durch einen gesteigerten Bewegungsdrang auszeichnet. Ob im Debüt «Shallow Grave», im grossen Durchbruch «Trainspotting» oder in «The Beach», «28 Days Later» und zuletzt im Oscar-Triumphator «Slumdog Millionaire»: In den Filmen von Danny Boyle wird gerne und viel gerannt. Tempo ist auch in «127 Hours» drin, indes nur ganz zu Beginn, wenn wir bei zackiger Musik, schnellen Schnitten und grellen Farben Bekanntschaft mit unserem Protagonisten machen: Die Outdoor-Sportskanone Aron Ralston (James Franco) rast und klettert in den im MTV-Stil gefilmten Auftakteinstellungen noch durch die monumentale Landschaft des Canyonlands National Park in Utah, bevor es für ihn zum totalen Stillstand kommt – bevor ein herabgestürzter Felsbrocken ihm die Hand einklemmt und ihn für die titelgebenden 127 Stunden praktisch zur Bewegungslosigkeit verdammt.

Hautnah dabei

Ralstons literarischer Bericht seiner Erlebnisse im März 2003 ist es, den der notorische Romanverfilmer Boyle hier zu Zelluloid gebracht hat. Zur Hand gegangen ist ihm beim Transponieren von den Buchseiten auf die Leinwand wiederum Drehbuchautor Simon Beaufoy aus dem «Slumdog Millionaire»-Team, das hier auch durch A.R. Rahman und dessen – wie Skript, Schnitt, Titelsong, Hauptdarsteller und Film – Oscar-nominierte Musik vertreten ist. Kein Wunder, lässt sich «127 Hours» trotz gänzlich ungewohnter Ausgangslage mühelos als Danny-Boyle-Werk identifizieren. Bekannt ist dieser visionäre Regiemeister aus Manchester dafür, dass er stets mit einem cineastischen Clou am Start ist. In «127 Hours» ist das die subjektive Kamera, mit der die Ich-Erzählform aus dem Buch repräsentiert wird. Und geradezu berüchtigt ist Boyle dafür, dass er nicht wegschaut, wenn es garstig wird. Das hat im aktuellen Fall, wo es sehr oft sehr garstig wird, dem Vernehmen nach bisweilen heftige Reaktion in den Publikumsreihen ausgelöst: Schwäche- und Schwindelanfälle sollen in den Kinosälen beobachtet worden sein, wenn Ralston auf der Leinwand zum finalen Befreiungsschlag ansetzt. Bis es zu dieser schon legendären Szene kommt, hat man mit dem tapferen Ralston freilich auch schon einiges durchlitten. Hautnah ist man dabei, wenn es für ihn allmählich ans Lebendige geht, wenn die Optionen zusehends schwinden und die Opferbereitschaft stetig wächst.

Ein bisschen Abwechslung

Ein schöner Anblick ist dieses übermenschliche Martyrium selten und ein abwechslungsreicher auch nicht. Damit es nicht zu eintönig wird, setzt Boyle deshalb öfters mal einen Kontrapunkt – etwa indem er auf Ralstons Handkamera umschaltet oder die eigene Kamera aus der Felsspalte rauszieht, um sich dem mächtigen «Gegner» des dann ganz winzig erscheinenden Leidenden zuzuwenden. Die spektakuläre Natur steht auch in der visualisierten Gedankenwelt des immobilen Helden immer wieder im Zentrum: in den Erinnerungen und den hoffnungsvollen Träumen, die zu skurrilen Visionen werden, die zu bizarren Halluzinationen werden. In diesen Rückblenden und Fantasiesequenzen kommt nun die psychische Belastung zum Ausdruck, nachdem zu den physischen Unbilden keine Fragen offen geblieben sind. Um den Horror im Hirn zu veranschaulichen, hätte es dieser Ausflüge indes nicht mal zwingend bedurft – dies bewerkstelligt Hauptdarsteller James Franco eigentlich ganz alleine. In der Rolle des Extremsportlers wird Franco zum Extremschauspieler und tobt sich auf engstem Raum richtiggehend aus. Ganz genau so wie sein Regisseur, der ein an sich düsteres Thema abermals in den strahlendsten Farben abbildet und kraft seiner unbändigen Inszenierungslust der Lebensfreude zum Triumph zu verhilft.