Ein Mauerblümchen tanzt sich in die eigenen Abgründe

Der im Ballettmilieu angesiedelte Psychothriller «Black Swan» handelt vom Lieblingsthema seines Regisseurs Darren Aronofsky – und hat die von ihm gewohnte Meisterwerkqualität.

 

von Sandro Danilo Spadini

Der Mathematiker in «Pi». Die Fernsehsüchtige in «Requiem for a Dream». Der Ehemann in «The Fountain». Das Wrack in «The Wrestler». Sie alle sind Besessene. Die welterklärende Formel. Der mediale Ruhm. Das Heilmittel. Das Comeback. Die Protagonisten der Filme Darren Aronfoskys verfolgen ihr Ziel bis zur Selbstaufgabe, bis zur Selbstauslöschung. Mit der Balletttänzerin Nina Sayers (Natalie Portman) aus Aronofskys neuem Thriller «Black Swan» erhalten sie nun eine Schwester. Auch sie ist besessen – von ihrer Kunst. Und auch sie wird sich bei ihrem Tanz in die eigenen Abgründe selbst aufgeben, selbst auslöschen. Dafür wird Darren Aronofsky, dieses Regiegenie aus Brooklyn, dieser «Master of Obsession», schon sorgen.

Loslassen von sich selbst

Anfangs noch ist Nina ein unscheinbares Mitglied einer fiktiven New Yorker Ballettkompanie. Talent hat sie zwar und Ehrgeiz sowieso. Doch verkrampft sie zu oft in ihrem Streben nach technischer Perfektion – worüber ihrem Spiel Lust, Gefühl, Leidenschaft abhandenkommen. Ganz anders der Star der Kompanie: Die in die Jahre gekommene Beth (Winona Ryder) sei getrieben von «dunklen Impulsen», sagt Thomas (Vincent Cassel), der Direktor, und will das als Ansporn für Nina verstanden haben. Leben müsse sie, sagt er, loslassen müsse sie. In Kontakt mit ihrer dunklen Seite müsse sie treten, wolle sie die grosse Chance packen, die er ihr nun, nach der Ausbootung von Beth, offeriert. Die Hauptrolle in Tschaikowskys «Schwanensee» hat er ihr angetragen, eine Doppelrolle. Den braven weissen Schwan beherrscht Nina schon aus dem Effeff; beim so verführerisch dämonischen schwarzen Schwan jedoch steht sie sich selbst, steht ihr ihre Persönlichkeit im Weg. Will sie die Rolle wirklich packen, muss sie aus sich raus – oder eben: sich selbst aufgeben, sich selbst auslöschen. Den Schlüssel zum Erfolg sieht Thomas denn auch in einer Metamorphose, namentlich in einer Sexualisierung des keuschen Mauerblümchens. Und Nina, zierlich, zerbrechlich, zerfressen von Unsicherheit und Ambition, steigt drauf ein und spielt die Psychospielchen mit und gibt sich einem Martyrium hin und stürzt sich sehenden Auges in einen Fiebertraum, aus dem es kein Erwachen geben kann. Denn schliesslich erwartet ihre Mutter (Barbara Hershey) den Durchbruch. Und schliesslich wartet in der für den schwarzen Schwan ideal konstituierten Person des Neuankömmlings Lily (Mila Kunis) die zweite Besetzung schon mit fletschenden Zähnen auf ihr Scheitern.

Doppelgänger und Halluzinationen

Die Spannungen sind hier von Beginn an greifbar, und sie werden sich intensivieren, bis es wehtut. Der Psychoterror befällt Nina von allen Seiten; sämtliche Figuren sind zwielichtig. Thomas etwa: Lustmolch oder Genie? Oder die Mutter: Tyrannin oder Fürsorgerin? Oder Beth: Wahnsinnige oder Opfer? Und Lily: Hexe oder Kumpel? Wie in einem David-Lynch-Film brodelt es bei allen unter der akkuraten Oberfläche. Und überhaupt Lynch: An seine cineastischen Albträume erinnert nicht nur die Geschichte mit ihrem Doppelgänger-Motiv, sondern auch die Inszenierung, gerade mit der Dramatik auf der Tonspur. Gleichzeitig ist «Black Swan» unverkennbar in Aronofskys Handschrift gehalten – thematisch sowieso und auch optisch mit den extremen Nahaufnahmen, dem realistischen, teils digitalen Look der Handkamera und einer hohen Körperlichkeit, die sich sowohl in erotischen Ausbrüchen als auch in knacksenden Knochen und blutenden Blessuren ausdrückt. Abermals hat Aronofsky zudem mit dem britischen Komponisten Clint Mansell gearbeitet; ihm, das liegt in der Natur der musikalischen Sache, kommt wie Chefchoreograf Benjamin Millepied eine Schlüsselrolle zu. Doch das Licht in der klaustrophobischen, halluzinatorischen Düsterkeit von Aronofskys neuerlichem Trip in die Abgründe eines Subkosmos ist Golden-Globe-Gewinnerin und Oscar-Favoritin Natalie Portman. Eine wahre Tour de Force hatte sie hier zu absolvieren, psychologisch, aber auch körperlich, bestritt sie die meisten Tanzszenen doch selbst. Und was sie dabei aus sich herausgeholt hat, ist just das, was Thomas von Ninas schwarzem Schwan fordert: Lust, Gefühl, Leidenschaft – und recht viel Dunkelheit.