Bis die Bühnenbretter krachen und die Leinwand reisst

Roman Polanski macht in «Carnage» Theater fürs Kino und stichelt gegen die moderne Gesellschaft: eine Fingerübung für den Regiemeister, ein Traum für die Schauspieler.

 

von Sandro Danilo Spadini

Daheim ists einfach am schönsten: Das hat sich Roman Polanski während seiner 50-jährigen Kinokarriere schon des Öfteren gesagt. Und entsprechend hat er seinen Figuren den emotionalen und physischen Terror immer wieder gerne in deren eigenen vier Wänden aufgebürdet: Mia Farrow gebar in «Rosemary’s Baby» zu Hause das Teufelskind; Catherine Deneuve ekelte sich in «Repulsion» daheim vor der Männerwelt; Polanski selbst halluzinierte sich in seiner neuen Mietwohnung durch «The Tenant»; und Sigourney Weaver stellte in «Death and the Maiden» ihren einstigen Peiniger im abgelegenen Eigenheim. Wenn Polanski nun also zwei Ehepaare in einem Brooklyner Wohnzimmer aufeinander losgehen lässt, so ist das mehr oder weniger Courant normal für den Regiemeister – und sowieso dienlich für die von ihm sehr geschätzte inszenatorische Dichte und Beklemmung. Gleichwohl ist in der Adaption von Yasmina Rezas Theaterstück «The God of Carnage», das hier nur noch «Carnage» heisst, vieles anders, als man es sich vom 78-Jährigen gewohnt ist.

Schmankerl von Waltz

Vor allem ist Polanskis neuer Film ausserordentlich lustig – und weit weniger böse, als zu erwarten stünde bei dieser Ausgangslage: Wie «vernünftige Menschen» wollen die Eheleute Longstreet (Jodie Foster und John C. Reilly) und Cowen (Kate Winslet und Christoph Waltz) eine Keilerei zwischen ihren Elfjährigen besprechen, bei der dem Longstreet-Jungen zwei Zähne ausgeschlagen wurden. Zivilisiert und kultiviert geht es im Apartment der Longstreets bei Kaffee und Cobbler zunächst denn auch zu und her. Doch nicht für lange. Denn bald schon tun sich persönliche Animositäten auf, die sich allmählich zu weltanschaulichen Differenzen auswachsen, die wiederum verblüffendes Aggressionspotenzial freilegen. So möchte Fosters gutmenschliche Penelope noch vor dem zweiten Stück Cobbler Waltz‘ zynischem Alan an die Gurgel; und dass Winslets frustrierte Nancy und Reillys jovialer Michael nicht miteinander können würden, zeichnete sich schon im Türrahmen ab. Bis auch der letzte Rest von Höflichkeit abgelegt wird und die Masken der Heuchelei endgültig fallen, dauert es zwar noch ein paar Schlucke Kaffee. Doch dann setzt eine verbale Kriegsführung auf dem weiten Feld von Naivität bis Nihilismus ein, und es wird aus allen Rohren mit scharfer Wortmunition gefeuert. Temporär werden dabei sogar die Fronten gewechselt, sodass das Elternduell zum Geschlechterkampf mutiert und sich ganz neue Perspektiven auf die vier keineswegs überzeichneten Figuren eröffnen. Zwar ist es nicht weltbewegend, was uns Polanski im Zuge dessen und mit seinen gewiss geistreichen Sticheleien gegen die moderne Gesellschaft mitteilt – bisweilen aber ist es sagenhaft vergnüglich. Die zackigsten Zeilen gönnt das von ihm mit Yasmina Reza adaptierte Drehbuch dabei dem in fast akzentfreiem Amerikanisch palavernden Christoph Waltz; und der österreichische Oscar-Preisträger weiss das zu schätzen und bedankt sich mit einer abermals wundervollen Vorstellung. Schauspielerische Schmankerl kredenzen freilich auch die beiden ebenfalls Oscar-gekrönten Damen, derweil John C. Reilly sympathischerweise einfach John C. Reilly ist.  

Köstlichkeit in Echtzeit

Klar: Wer drei solche Giganten plus John C. Reilly im Wohnzimmer hat und zudem über ein Skript dieser Güte verfügen darf, braucht im Grunde bloss noch «Action!» zu rufen. Und tatsächlich ist «Carnage» vor allem für die Darstellerzunft ein Traum, die ja oft davon schwärmt, die wahren beruflichen Herausforderungen fänden sich nicht vor der Kameralinse, sondern auf den Theaterbrettern. Für Polanski hingegen ist das mehr eine Fingerübung. Was ihm bei seiner dritten Theateradaption aber fraglos hoch anzurechnen ist, sind der Fluss und die irrwitzige Dynamik, die das Geschehen annimmt: bis die Bühnenbretter krachen und die Leinwand reisst. Mit dem Entscheid, dieses nur 79-minütige satirische Glanzstück wie auf der Bühne in Echtzeit ablaufen zu lassen, schuf Polanski aber auch für sich noch eine echte Herausforderung. Und auch wenn man am Ende des ganzen Theaters vielleicht nicht viel schlauer ist: Amüsiert hat man sich einfach köstlich.