von Sandro Danilo Spadini
Der Tatort, das Gefängnis, die Uni: Noch bevor die Auftaktmusik verklungen ist, hat Regisseur Tony Goldwyn mit einer kurzen Montage die Auslegeordnung für sein Drama «Conviction» gemacht. Und da uns eine Einblendung
vorgängig darüber informiert hat, das Folgende habe sich ab 1980 just so zugetragen, sind wir nun hinreichend vorbereitet: Es kann losgehen mit der unglaublich anmutenden, aber eben wahren
Geschichte von Betty Anne Waters. Eine ländliche Gegend in Massachusetts ist der Schauplatz; hier hat sich jenes brutale Verbrechen ereignet, das die Zukunft Betty Annes (Hilary Swank) und ihres
Bruders Kenny (Sam Rockwell) bestimmen wird. Dreissigmal hat man auf die alte Frau eingestochen, den Schädel hat man ihr zertrümmert, und die Bestie, die das getan hat, soll Kenny sein. Glaubt
die örtliche Polizeichefin (Melissa Leo). Glaubt die Staatsanwältin (Talia Balsam). Glaubt auch die Jury. Und so wird Kenny verurteilt. Lebenslänglich.
Das Leben für den Bruder
Erzählt hat uns der erfahrene Fernsehfilmer Goldwyn (u.a. «Dexter», «Damages», «Justified») diese Vorgeschichte mit einer Folge von Rückblenden. Diese haben uns sogar noch weiter zurück in Betty
Annes und Kennys Vergangenheit geführt: in unbeschwertere Zeiten als junge Erwachsene und bis in die schwierige Kindheit mit der White-Trash-Mutter (Karen Young). Einem Anwalt gleich hat Goldwyn
einen «Background-Check» seiner Heldin und des Angeklagten gemacht. Und das Bild, das sich so ergab, spricht gar nicht für Kenny: Ein aufbrausender Tunichtgut ist das, ein Spitzbube, um es mild
auszudrücken, ein Querulant mindestens. Doch auch ein Mörder? Für Betty Anne stellt sich diese Frage nicht. So sehr ist sie von des Bruders Unschuld überzeugt, dass sie ihr Leben diesem einen
Ziel unterordnet: der Justiz ihren Irrtum aufzuzeigen. Da Geld knapp ist und das Vertrauen in andere gering, nimmt Betty Anne die Sache selbst in die Hand und beginnt für die Anwaltsprüfung zu
büffeln. Dass darüber ihre Ehe in die Brüche geht, nimmt sie in Kauf; dass sie öfters an den Anschlag kommt, sowieso; und auch, dass das Anwaltsdiplom nur der erste Schritt auf einem sehr langen
und nur wenig erfolgversprechenden Weg sein kann. Als Zuschauer freilich darf man da schon optimistischer sein – aus irgendeinem Grund wurde diese Geschichte schliesslich verfilmt. Und auch
Regisseur Goldwyn macht kein Staatsgeheimnis daraus, dass Kenny wohl in der Tat zu Unrecht einsitzt – zu klar hat er die Sympathien verteilt.
Herber Lokalcharme
Ohnehin hat Goldwyn hier ein Justizdrama recht klassischen Hollywood-Zuschnitts gedreht: den heroischen Kampf einer Einzelnen gegen das System im Stile von «Norma Rae» oder «Erin Brokovich». Doch
um diesen Kampf zu visualisieren und vitalisieren, findet der einst als Schauspielerhoffnung gehandelte Spezialist für Familienangelegenheiten in seiner vierten und bislang besten
Kino-Regiearbeit nebst manch Formelhaftem auch einiges Spezielles: etwa indem er seine Story mit einem gewissen Lokalkolorit ausmalt, mit erdigen Farben und geerdeter Inszenierung und
Impressionen von kaputten Typen und klapprigen Hütten. Ganz zum Verschwinden bringt er Hollywood damit zwar nicht; dafür lässt er es zu oft auch zu schwülstigen Momenten kommen. Doch setzt er
gerade in den dramatischen Spitzen auf so wohltuendes wie unerwartetes Understatement. Bewundern muss man Goldwyn überdies für seine Erzählökonomie; bedanken darf man sich bei ihm für die
Reaktivierung fast vergessener Mimen wie Peter Gallagher und Minnie Driver in markanten Nebenrollen und die Plattform, die er Juliette Lewis für einen sensationellen Kurzauftritt gibt. Was
«Conviction» deutlich von der Masse abhebt, sind freilich die beiden Hauptdarsteller. Bei Sam Rockwell meint man, er altere in den hundert Erzählminuten tatsächlich um die erzählte Zeit von zwei
Jahrzehnten – ein starkes Stück Schauspielerei eines Mannes, der zum Fachmann für schwierige Typen avanciert ist. Und Hilary Swank, ohnehin die Idealbesetzung für diese Rolle, spielt ihre Figur
nicht bloss, sondern lebt förmlich Betty Annes Hingabe, kämpft ihren Kampf und weint ihre Tränen – jene der Trauer wie jene der Freude.