Und das Leben war und ist trotzdem schön

Gut vier Jahrzehnte einer oft tragischen und immer turbulenten Familiengeschichte erzählt Autor und Regisseur Paolo Virzì in «La prima cosa bella» – mit Herz, Witz und viel Temperament.

 

von Sandro Danilo Spadini

Völlig verrückt sei er, befindet die Freundin. Und nach allem, was man bisher von diesem Professore Bruno Michelucci (Valerio Mastandrea) gesehen und gehört hat, kann man ihr nur zustimmen. Doch wer ist hier eigentlich nicht verrückt? Der Vater (Sergio Albelli) war es auf jeden Fall. Von ihm, einem beschnauzten jähzornigen Maresciallo der Carabinieri, hat Bruno nicht nur die eine oder andere Macke, sondern auch den Dickschädel geerbt. Anscheinend nichts geerbt hat der freudlose Mittvierziger derweil von seiner Mama (Stefania Sandrelli und Micaela Ramazzotti), wiewohl auch sie komplett verrückt war und ist. Um sie soll es hier aber gehen. Ihr bevorstehender Krebstod ist es, der Bruno von Mailand zurück ins verhasste Livorno bringt. Und ihr in so vollen Zügen gelebtes Leben ist es, anhand dessen Regisseur und Drehbuchautor Paolo Virzì in «La prima cosa bella» ein über fast vier Jahrzehnte gespanntes Familienporträt entwirft.

Pudelwohl in den Siebzigern

Heiter und nervös geht es in dieser mehrfach preisgekrönten Komödie klassisch italienischen Zuschnitts zu und her. Auch das traurige Thema von Annas schwerer Krankheit ändert daran nichts – noch an ihrem Totenbett wird munter (und stets pietätvoll) gescherzt. Eine Frohnatur vor dem Herrn ist die Mama, auch noch im Angesicht des Todes, während Bruno so unfroh ist, dass er sie um ihre betäubenden Schmerzmittel beneidet. Überhaupt ist der «Gelegenheitsjunkie» stets auf der Suche nach etwas Berauschendem oder eben Betäubendem. Doch weil weder Annas Arzt noch die Apothekerin und noch nicht mal der flippige Neffe ihm was «rauslassen» wollen, muss sich Bruno klarer Sinne der Realität stellen. Und diese verlangt von ihm und seiner Schwester Valeria (Claudia Pandolfi) Vergangenheitsbewältigung. Das führt auch Virzì – wie Bruno auf die fünfzig zugehend und ebenfalls ein Polizistensohn aus dem toskanischen Livorno – zurück in die eigene Kindheit. Und es gibt ihm Gelegenheit, die Siebziger und die Achtziger farbenfroh ins Bild zu setzen und seine formidable Ehefrau Micaela Ramazzotti in der Rolle der jungen und umwerfenden Anna zu inszenieren. Häufig und ausführlich blendet er zurück. Keineswegs macht er das Geschehen dadurch aber holprig; vielmehr geht der stete Zeitebenen-Wechsel in der allgemeinen Hektik fast unter. Pudelwohl scheint sich Virzì vor allem in den gelbstichig visualisierten Siebzigern zu fühlen. Vielleicht nicht mondän und spektakulär, aber jedenfalls exquisit und detailliebend sind hier denn auch die zahlreichen Sets. So wie das Strandbad Pancaldi in Livorno, in das uns die grossartige Ouvertüre führt und wo Anna zur «Miss Mamma 1971» gewählt wird. Von hier aus nimmt die oft tragische und immer turbulente Geschichte der Familie Michelucci volle Fahrt Richtung Chaos auf. Und wenngleich sich Virzì beim Erzählen gerne Zeit lässt, will kaum je so etwas wie Gemächlichkeit oder Gemütlichkeit aufkommen – zu viel Temperament ist hier drin, zu viel wird gestritten und gefuchtelt und geschrien und gelitten.

Auch was fürs Auge

Herz und Witz ist in «La prima cosa bella» auch ganz viel drin. Virzì begnügt sich freilich nicht damit, allerhand Schabernack zu treiben, eine wilde Horde von Charakterköpfen anzuleiten und eine oft rührende, bisweilen wehmütige Geschichte zu erzählen. Vielmehr will er auch optisch etwas bieten, und er tut dies mit prächtigen Farbkompositionen und eleganten Kamerafahrten. Zum konstanten Schmunzeln gesellen sich so immer wieder auch grosse Augen. Dies besonders in der ersten Hälfte und bis zum Abschliessen mit den Siebzigern, verliert der Film danach doch allgemein ein wenig an Schwung. Gegen Ende, wenn die Zeit des Abschieds von Anna naht, kommen dann vermehrt ernstere Töne auf. Es werden nun die längst überfälligen Gespräche geführt, die Probleme bereinigt, die auf Pause geschalteten Leben allmählich weitergelebt. Und an Anna, diesem wundervollen Energiebündel, ist es jetzt, Bilanz zu ziehen: «Was für ein Leben! Aber wir hatten eine Menge Spass.» Wir auch.