Alice und Mattia: So nah und doch so fern

Bestechende Bestseller-Adaption: «La solitudine dei numeri primi» erzählt zutiefst ergreifend und über fast drei Jahrzehnte von zwei Aussenseitern und Beinahe-Liebenden.

 

von Sandro Danilo Spadini

Es gibt in «La solitudine dei numeri primi» diese eine Montage etwa in der Filmmitte. Sie dauert bestimmt zehn Minuten und ist untermalt von dröhnend lauter und latent drohender Musik. Es sind hypnotische zehn Minuten; man kriegt es regelrecht mit der Angst zu tun. Dabei ist das Gezeigte doch recht harmlos: ein Mädchen beim Skifahren, ein Junge beim Kindergeburtstag. Die Inszenierung von Regisseur Saverio Costanzo suggeriert freilich anderes: Sie kündet von der nahenden Katastrophe. Und in der Tat laufen hier parallel die Schlüsselereignisse im Leben der beiden Protagonisten ab: Alice verloren im Nebel, Mattia auf Abwegen mit der autistischen Zwillingsschwester – so kann man das auch lesen, so muss man das lesen. Siebenjährig sind die beiden in dieser Montage, die 1984 spielt. Noch kennen sie sich nicht, noch hat ihre zart-zerbrechliche Beziehung nicht begonnen.

Kunstvoll statt künstlich

Wir indes haben zuvor bereits und werden auch danach wieder Alice und Mattia mit 17 und mit 24 Jahren zu sehen bekommen – zermürbt von Schuld und Scham und schwer gezeichnet von ihren jeweiligen Schicksalsschlägen: Anna körperlich durch den Skiunfall und als Folge davon auch seelisch, was sich in Essstörungen äussert; Mattia seelisch durch seine Verantwortung am Verschwinden der Schwester und als Folge davon auch körperlich, was sich in selbstverletzendem Verhalten äussert. Ungemein vereinnahmend ist diese mosaikhafte Erzählstruktur – und so wie der Film überhaupt mit seiner überwältigenden Optik und dem bisweilen mysteriös-thrillerhaften Gestus: nicht gezwungen und künstlich, sondern zwingend und kunstvoll. Der zeitliche Zickzack und die – inklusive Epilog – zwei mal vier Erzählebenen sind also kein Versuch, besonders clever zu sein. Vielmehr ist das die zweckdienlich irritierende und zugleich verblüffend stimmige Ausdrucksform für diese oft verstörende Geschichte zweier seelenverwandter Aussenseiter, die sich stets so nah und doch zu fern sind, um Liebende zu werden. Vorgegeben von der Vorlage ist das freilich nicht, und dabei ist die Vorlage nicht irgendeine: Den Premio Strega, den wichtigsten Literaturpreis Italiens, erhielt der 2008 gerade 26-jährige Turiner Paolo Giordano für sein Romandebüt. Zu einer sklavisch worttreuen Adaption fühlte sich hier gleichwohl niemand verpflichtet. Die mathematischen Metaphern im Buch des studierten Physikers Giordano etwa sind im Film von Saverio Costanzo («Private») grossenteils ausgespart. Das ist wohl nachvollziehbar und von Giordano selbst so gewollt (er hat mit Costanzo das Skript verfasst); unterschlagen wird so aber die Bedeutung des Titels: «Die Einsamkeit der Primzahlen». Da Primzahlen nur durch sich selbst und eins teilbar sind, gehen sie kaum «Beziehungen» ein und sind somit ziemlich einsam. Immerhin aber existieren sogenannte Zwillingsprimzahlen, etwa die 11 und die 13, die eng beieinanderliegen. Ein ebensolches Paar sind nun Mattia und Alice: aufgrund ihrer Ähnlichkeit eigentlich füreinander bestimmt und letztlich doch zum Alleinsein verdammt.

Perfekt bis zum Schluss

Je drei Darsteller unterschiedlichen Alters waren vonnöten, den beiden über die erzählten drei Jahrzehnte ein Gesicht mit den so traurig-leeren Augen zu geben. Ausgesucht wurden sie offenbar nicht nur nach Talent (wovon sie alle reichlich haben), sondern ebenso nach optischer Glaubwürdigkeit. Und tatsächlich fällt es leicht, bei Martina Albano, Arianna Nastro und Alba Rohrwacher sowie Tommaso Neri, Vittorio Lomartire und Luca Marinelli auch die logische physische Figurenentwicklung zu akzeptieren. Noch nachbessern mussten dabei Rohrbacher und Marinelli, da für sie mit dem im Jetzt angesiedelten Epilog eine körperlich quälende Nachspielzeit anstand. Delirierend und schockierend ist dieser letzte Block – und dann doch relativierend und damit typisch für den Film. Denn hier ist sie wieder, diese emotionale Achterbahn mit der quasi bipolaren Inszenierung, wo grösster Dramatik oft höchste Ruhe folgt, wo es entweder ganz laut oder ganz still ist. Fesselnd und erschütternd ist das, zutiefst berührend und vollkommen meisterhaft – bis zum schlicht perfekten Schlusspunkt, der eigentlich so unmöglich zu finden war wie eine nicht einsame Primzahl.