von Sandro Danilo Spadini
Eigentlich ist das die Geschichte eines Mannes, der sich seiner Kindheit in den Fünfzigerjahren erinnert. Doch dieser von Sean Penn gespielte Mann ist meist absent, und entgegen jeglicher
narrativer Tradition beginnt der Film sogar in der erinnerten Zeit statt im Jetzt. Mit traditionellen Erzählmustern ist in Terrence Malicks neustem, erst fünftem Werk aber ohnehin nicht zu
rechnen. Was der notorisch fremdelnde 67-Jährige unter Buhrufen einerseits und Palmensegen andererseits letzte Woche in Cannes hat präsentiert lassen, ist nämlich weniger Film als vielmehr
intellektuelle Meditation und psychedelischer Bilderrausch: elegisch und esoterisch, mystisch und metaphysisch, poetisch und spirituell. In besonderem Masse gilt das für die – sehr lange –
Ouvertüre. Sie wirkt wie ein Traum – oder mehr noch wie die erschöpfte Fantasie kurz vor dem Tode. Dabei strotzt sie aber vor Leben, strotzt sie vor satten Farben, strotzt sie vor Sonne.
Zwischenzeitlich ist darin minutenlang bloss Naturschauspiel zu sehen, untermalt von kräftiger klassischer Musik. Gesprochen wird fast nur aus dem Off über das Bild hinweg und zum Publikum oder
zu Gott. Und schliesslich mischen sich in das berauschende Spiel der Elemente bisweilen noch Fantasy-Szenen. Rational zu fassen ist das nicht. Vielmehr ist es wie ein LSD-Trip auf dem Picknick
der Sonntagsschule. Dabei darf es selbstredend auch Malicks Geheimnis bleiben, weshalb eine Sequenz dort steht, wo sie steht: Die Wege des Regiegotts sind nun mal unergründlich.
Der strenge Vater
Diese – in der Tat sehr lange – Genesis von Malicks Werk ist von biblischer Dringlichkeit und sich seiner Grösse, Schwere und Stärke sehr wohl bewusst. Und es dauert eine geschlagene
Dreiviertelstunde, bis «The Tree of Life» – es ist ein adäquater Titel – endlich Wurzeln schlägt: in den zuvor schon wiederholt aufgesuchten texanischen Suburbs der Fünfzigerjahre. In einer
verlorenen Idylle, wo weisse Leintücher in den Gärten hängen, die Luft voller Schmetterlinge und Seifenblasen ist und die kaum je beim Namen genannte Hauptfigur noch halbwüchsiges Mitglied einer
fünfköpfigen Durchschnittsfamilie. Auslöser dieser Erinnerung sind Gedanken an den jung verstorbenen Bruder; dessen so früher Tod löst denn auch die mannigfachen Anrufe an Gott aus. Erinnert wird
indes nicht so sehr er wie der strenge Vater (Brad Pitt), der Brahms liebt und Orgel spielt und auf seine Weise auch seine Kinder liebt und Sportspiele mit ihnen spielt. Er ist ein guter Christ
und die Rechtschaffenheit in Person. Und er ist ein Kind seiner Zeit, aus dem nicht das geworden ist, was es sich gewünscht hat, und das immerzu mit Fragen ums eigene Geld und das anderer Leute
beschäftigt ist. Seine Erziehung ist ein Drill und seine Liebe lähmend, fast einzig darauf aus, aus seinen Sprösslingen ebenso rechtschaffene Bürger zu formen. Dabei wäre er sehr wohl zu mehr
fähig, wie jene Augenblicke von höchster Intensität und zärtlichster Intimität bezeugen, die vielleicht am meisten haften bleiben von diesem Film.
Pitt auf vertrautem Terrain
Von einem Film, der eine standesgemäss schwere Geburt hatte und der fraglos sehr persönlich ist. Es ist dies denn auch ein Regisseurenfilm, Malicks Film, er hat auch das Drehbuch verfasst. Nicht
unerwähnt bleiben darf darob aber das präzise Spiel des aus Oklahoma stammenden Brad Pitt. Er bewegt sich hier halt unverkennbar auf vertrautem Südstaaten-Terrain und hat schon ähnliche Erfahrung
in der freien Natur gesammelt in «A River Runs Through It» und «The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford». Als Gattin zur Seite steht ihm Newcomerin Jessica Chastain, was
durchaus ein Segen ist. Sean Penns Beitrag ist aufgrund der geringen Einsatzzeit derweil minimal – nicht einmal Text lernen musste er.
Lichtdurchflutete Erfahrung
Wiewohl auf der Tonspur unter Regen, Wind und Vogelgezwitscher und bevorzugt in Gedichts- oder Bibelversform Fragen über Fragen gestellt werden: Seine Kraft schöpft «The Tree of Life» zuvörderst aus dem Visuellen. Die
Sonne wird auch nach der dreiviertelstündigen Schöpfungsgeschichte kaum aufhören zu scheinen. Und das von ihr gespendete Licht, auf das Naturbursche Malick nahezu exklusiv zurückgreift, gibt dem
Geschehen einen gleichsam dokumentarischen Anstrich. Noch mehr indes ist dieser Eindruck der Kamera von Emmanuel Lubezki («Ali») geschuldet. Wie aus dem Jenseits kommend schwebt sie in das
brüchige Familienidyll hinein, um sich erst von hinten an die Figuren heranzupirschen und sie sodann von allen Seiten und aus nächster Nähe zu behelligen: als ob sie auf den Kopf des im Garten
herumtollenden Familienhunds geschnallt wäre. Und wenn sie einmal zurückweicht und vom Close-up auf die Totale wechselt, erzeugt sie so manches Bild für die Ewigkeit: für den Umschlag eines noch
zu schreibenden Filmgeschichtsbuchs. Es wäre freilich ein Buch für den engeren Zirkel der Cineasten-Gemeinde. Denn jedermanns Sache kann und will und muss dieser Kunstfilm mitnichten sein. Mehr
als eine Geschichte zu erzählen, will er ein Gefühl vermitteln. Mehr als die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten, will er sie stellen. Mehr als den Kopf anzuregen, will er die Seele
stimulieren. Es ist ein Erlebnis, eine Erfahrung und manchem wohl auch eine Erkenntnis. Es ist ein ganz grosser Film. Es ist ein Kunstwerk.