von Sandro Danilo Spadini
Am 4. November 1979 dringen rund 400 Anhänger des iranischen Revolutionsführers Ayatollah Khomeini in die amerikanische Botschaft in Teheran ein. Ihr Ziel ist es, vom grossen Satan die
Auslieferung des in New York hospitalisierten Schah zu erwirken. 52 US-Diplomaten werden dafür zu Geiseln erklärt. Doch Präsident Jimmy Carter mag sich nicht erpressen lassen. Die Fronten sind
verhärtet und werden es bleiben. Das Martyrium der Botschaftsmitarbeiter wird sich in scheinbar endlose Länge strecken und die Welt für eine gefühlte Ewigkeit in Atem halten. Es ist ein
menschliches Desaster und ein politisches Fiasko – mit weitreichenden Folgen: Carter ist wegen der ausbleibenden Befreiung bald als Schwächling verschrien und verliert am Jahrestag der
Botschaftsstürmung die Wahl gegen Ronald Reagan; die 52 Amerikaner kommen erst bei Reagans Vereidigung zum 40. Präsidenten der Vereinigten Staaten frei – nach 444 Tagen in Gefangenschaft. So weit
das Zahlenmaterial zu dem Drama, das als «Geiselnahme von Teheran» in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Eher eine Randnotiz ist dort derweil das nicht so nüchtern zu fassende Schicksal jener
sechs US-Diplomaten, denen kurz vor dem Eindringen der Revolutionäre die Flucht ins Haus des kanadischen Botschafters gelang. Und dabei ist ihre Geschichte im Wortsinn filmreif.
Auf exotischem Terrain
Es war also nur eine Frage der Zeit, bis diese Geschichte auch auf der Leinwand erzählt würde. Verwunderlich ist eher, dass es so lange gedauert hat. Aber gut Ding will eben Weile haben – und ein
gut Ding ist der von Regisseur, Produzent und Hauptdarsteller Ben Affleck nun vorgelegte Thriller «Argo» fürwahr. Man könnte Afflecks dritte Regiearbeit wie schon die Vorgänger «Gone Baby Gone» und «The Town» sogar ein Kinojuwel oder
eine Filmperle nennen und sollte das ruhig auch tun. Denn was der 40-Jährige hier abliefert, ist zwei Stunden kluge und mitreissende, kunstvolle und oft magische Unterhaltung, wie sie nur das
Kino in seinen Sternstunden zu bieten vermag. Es ist dies auch eine Art Meisterprüfung für den Regisseur Affleck, zumal er hier das vertraute Bostoner Terrain erstmals verlässt und sein Können
auch «auswärts» unter Beweis stellt. Was der Schauspieler Affleck in «Argo» zeigt, ist freilich auch aller Ehren wert. Er verkörpert kraftvoll und vollbärtig den vormaligen CIA-Agenten Tony
Mendez, auf dessen Memoiren der Film lose beruht. Mendez war der Kopf der nachgerade bizarren Aktion zur Rückführung der sechs geflüchteten Botschaftsangestellten in die USA, die bei Entdeckung
mit öffentlicher Hinrichtung zu rechnen hatten: Mithilfe zweier Hollywood-Veteranen (John Goodman und Alan Arkin) kreierte er die bis ins letzte Detail ausgestaltete Deckgeschichte von sechs
kanadischen Filmschaffenden, die im Iran nach exotischen Drehorten für einen Science-Fiction-Film namens «Argo» Ausschau halten.
Flirt mit der Perfektion
Die – man muss es nochmals sagen – wahre Geschichte von «Argo» ist dermassen aberwitzig, dass sich zwangsläufig auch heitere Momente einstellen: gerade wenn Goodman und Arkin mit blitzblankem
Hollywood-Zynismus die Fantasterei ausmalen. Überwiegend jedoch ist das, selbstredend, eine überaus ernste Sache, und die Nerven sind zum Zerreissen gespannt. Denn es ist nichts weniger als
meisterhaft, wie Affleck die Spannung erzeugt, steigert und aufrechterhält; sein Timing ist makellos. Und mindestens so mustergültig ist es, wie er ohne zu trivialisieren die komplexen Begebnisse
auf ein kinoverträgliches Mass stutzt und die Übergänge von Thriller zu Komödie zu Drama meistert. Einen engagierten und energiegeladenen Film hat Affleck hier erschaffen, der zudem so sagenhaft
gut wie zeitgerecht ausschaut – dem feinen Retrolook von Kameramann Rodrigo Pietro sei Dank. Zu loben wären zudem Cutter William Goldenberg, Drehbuchautor Chris Terrio und Nebendarsteller wie
Bryan Cranston, Victor Garber oder Tate Donovan. Zu loben wären eigentlich alle, die zu diesem Herzensprojekt des grossartigen Ben Affleck beitrugen. Ein heftiger Flirt mit der Perfektion ist das
– und ein heisser Oscar-Kandidat.