Schuld und Sühne im Moskau von heute

Der russische Regisseur Andrey Zvyagintsev sinniert im Thriller «Elena» über die menschliche Natur. Er lässt sich dabei Zeit – und kommt so zu klugen Einsichten.

 

von Sandro Danilo Spadini

Das Erste, was man hört, ist eine Krähe. Die Kamera verharrt derweil völlig regungslos hinter den kahlen Ästen vor der Fensterfront eines Designerhauses – mehr als eine Minute lang. Schon jetzt weiss man, was für eine Art Film «Elena» sein wird: einer mit tiefem Erzähltempo und hohem Kunstsinn. Und auch die nächsten Einstellungen bestätigen diesen Befund: In David-Lynch-Manier vermisst der russische Regisseur Andrey Zvyagintsev Standbild um Standbild die Räume des Hauses, das seine Kamera vorher noch von aussen angestarrt hat. Bis er im Schlafzimmer endlich Elena entdeckt: eine stämmige Frau in den Sechzigern, grandios verkörpert von Nadezhda Markina. Gesprochen wird dann nach sieben Minuten erstmals. Ein mattes «Steh auf» raunt Elena ihrem Mann Vladimir (Andrey Smirnov) zu. Und bis er das dann auch getan hat und sich am Frühstückstisch der erste Dialog entspinnt, sind nochmals drei Minuten vergangen. Bis jetzt weiss man lediglich dies: Elena und Vladimir gehen recht förmlich miteinander um; sie wünscht ihm höflich Guten Morgen, er lobt artig ihren Buchweizenbrei. Und ihr Haus ist wirklich sehr schön.

Eine Frage des Geldes

Ganz anders haust Sergey (Aleksey Rozin), Elenas Sohn. In einem verwitterten Sowjet-Plattenbau neben AKW-Kühltürmen vegetiert dieser schmarotzende Phlegmatiker mit seiner Familie. Wenn er nicht gerade Videogames spielt oder auf dem Sofa Bier trinkt, zankt er sich mit der ewig klagenden Gattin (Evgeniya Konushkina); oder er nervt sich über Teenagersohn Sascha (Igor Ogurtsov), der nicht der Hellste und nicht der Fleissigste ist und auf die schiefe Bahn zu geraten droht. Was einem wie Sascha blüht im neuen Russland, dessen sind sich seine Eltern und noch mehr Babuschka Elena nur zu bewusst: Ohne Fleiss und vor allem ohne Geld gehts statt an die Uni zur Armee nach Ossetien. Geld wäre freilich vorhanden. Bloss gehört das Vladimir, und der ist nicht Saschas Opa, sondern erst zwei Jahren mit Elena verheiratet – und darüber hinaus ein bisschen ein Tyrann, der findet, die Armee sei die beste Schule. Elena findet das ganz und gar nicht. Und nachdem Vladimir beim Schwimmen einen Herzinfarkt erlitten hat und nun plötzlich sein Vermögen der undankbaren Tochter (Elena Lyadova) vermachen will, macht sich Elena so ihre Gedanken. Die macht sich auch Zvyagintsev in seinem Drittling zuhauf: wie schon in «The Return» und in «The Banishment» über die grossen Fragen des Lebens und die menschliche Natur allgemein; und speziell über Schuld und Sühne im heutigen Russland und das Sein in einer Welt, wo Geld einen ungesund hohen Stellenwert hat – und wo allzu viele finanziell und geradeso viele auch moralisch bankrott sind.

Verzwickte Schuldfrage

Einen existenziellen Noir-Thriller könnte man «Elena» nennen – wobei kriminelle Energien erst nach über einer Stunde überhaupt erst erahnbar werden. Aber so ist das bei Zvyagintsev: Er lässt sich seine liebe Zeit beim Erzählen. Dafür kommt er dabei immer wieder zu klugen Einsichten. So auch in «Elena», wo er mit der Präzision eines Claude Chabrol Schichtunterschiede und Klassenbewusstsein in der Moskauer Gesellschaft aufzeigt. Das Kalte der Farben, das Klare der Sprache, das Strenge der Formen, das Spannende der Philip-Glass-Musik verleihen dem Film dabei eine bedrohliche Schönheit und eine Einsamkeit von der Wucht einer Wim-Wenders-Landschaft. Dass alles auch ein wenig entrückt wirkt, ist derweil massgeblich der Kamera geschuldet: wenn sie statisch bleibt, sich stoisch gibt und die Figur einfach aus dem Bild laufen lässt oder ihr bloss behäbig, wie widerwillig folgt. Und als ob das nicht irritierend und herausfordernd genug wäre, verknotet der auch für das Skript mitverantwortlich zeichnende Regiemeister Zvyagintsev gar noch die Schuldfrage. Denn reich ist hier nicht einfach gleich böse und arm nicht automatisch gleich gut. Und inmitten von Leuten, die das Lachen und das Lieben verlernt haben, ist ausgerechnet die Person mit der grössten Schuld noch die menschlichste: Mit ihrer sanften Stimme und dem milden Blick strahlt Elena jedenfalls als Einzige etwas Wärme aus.