Wenn Papa mal schnell Zigaretten holen geht…

Wie die Coens auf Schweiz-Urlaub: Die schwarze Komödie «Nachtlärm» von Autor Martin Suter und Regisseur Christoph Schaub ist amüsant, ästhetisch und fantastisch gespielt.

 

von Sandro Danilo Spadini

Neun Monate dauert dieser Zustand nun schon an. Neun geschlagene Monate schon schreit Tim die Nächte durch. Marco (Sebastian Blomberg) will jetzt aber endlich mal wieder Sex, Livia (Alexandra Maria Lara) eigentlich noch lieber schlafen; und beide wollen sie vor allem das eine: Ruhe. Doch da macht Baby Tim partout nicht mit. Vielmehr möchte er von seinen Erzeugern durch die Nacht kutschiert werden, idealerweise bei Tempo 130 – «das ist seine Schlafgeschwindigkeit», wie Marco weiss. Also wirft sich Livia in Schale und Trainerhosen-Träger Marco eine Jacke über, und runter gehts zum Wagen und ab sodann auf die Autobahn. Daselbst verabschiedet sich Tim zwar sporadisch ins Schlummerland. Dafür aber geraten sich Mama und Papa gehörig in die Haare. Bis die Nerven endgültig blankliegen. Bis beide auf einmal heulen. Bis Livia endlich sagt: «Ich kann nicht mehr.» Und: «Wir brauchen Hilfe.» Marco freilich braucht jetzt erst mal Zigaretten. Da kommt der Halt an der Raststätte gerade gelegen. Aber hoppla: Verdrückt sich da etwa einmal mehr ein missvergnügter Gatte mit der langbärtigen «Ich geh mal Zigaretten holen»-Ausrede? Nein, nein, als Livia vom Klo zurückkommt, ist der Mann jedenfalls noch da; bloss das Auto, das ist weg – samt Kind.

Schweizer Supertalent

Den alten Golf geklaut haben zwei, die geradeso viel Spass machen wie die deutschen Edelmimen Sebastian Blomberg und Alexandra Maria Lara als Eheleute im Kriegszustand: der forsche Wiener Strawanzer Georg Friedrich und die fesche Winterthurer Kinonovizin Carol Schuler, die auch das famose Titellied «Kleiner Mensch» singt. Als gleichfalls gerne zankendes Ganovenpärchen sind die beiden schlicht eine Wucht. Und wäre man von patriotischen Neigungen beherrscht, so müsste man geradewegs ein wenig stolz darauf sein, wie formidabel sich «unser» Supertalent Schuler nebst diesen arrivierten ausländischen Stars schlägt – fast wie Shaqiri bei den Bayern! Apropos Bayern: Just dort wurden Teile von «Nachtlärm» gedreht. Und das mag auch erklären, wieso diese sonst in der Region Zürich angesiedelte deutsch-helvetische Co-Produktion von Autor Martin Suter und Regisseur Christoph Schaub so unschweizerisch wirkt: nicht nur im Ton, den ein stets akzentfreies Schriftdeutsch prägt, sondern auch im Bild, das von einer weltläufigen Neo-Noir-Ästhetik profitiert. Wenn Marco und Livia im ebenfalls stibitzten Mercedes den ungewollten Kindsentführern hinterherbrettern und dabei ihrerseits vom Bestohlenen (Andreas Matti) verfolgt werden, wähnt man sich denn auch eher in der weiten Kinowelt. Nur ein paar Kühe und etwas Ländlermusik aus dem Autoradio verleihen dann noch Lokalkolorit. Und daran ist sicher nichts auszusetzen, ganz im Gegenteil. Einem Film ein ortsentrücktes Antlitz zu geben, ist schliesslich eine Kunst. Ausserdem könnte das der gewiss angestrebten Auswertung im benachbarten Ausland dienlich sein. Die Chancen darauf müssten eigentlich günstig stehen – der schieren Qualität wegen und weil das Team Suter-Schaub unlängst schon mit «Giulias Verschwinden» auch ennet den Grenzen reüssiert hat.  

Schwarz und skurril

Der Humor ist in dieser wohltemperierten nächtlichen Turbulenz freilich ein anderer als im Vorgängerhit des Gespanns: schwärzer und skurriler. Etwa wenn der unflätig wie eh und je daherschmähende Friedrich auch mal das Baby anschnauzt. Oder bei der Polizei die typisch schweizerische Beschwerde wegen Containerbeschädigung eingeht. Oder der halunkenhafte Mercedes-Halter wegen seines Reizmagens die Jagd auf Marco und Livia Mal für Mal unterbrechen muss. Das ist dann ein bisschen so, als ob die Coen-Brüder auf Schweiz-Urlaub gewesen wären. Allerdings hätte es gerne noch mehr sein dürfen von dieser Sorte Humor – und durchaus auch zünftiger. Stattdessen aber lassen Suter und Schaub aus dem Spass zunehmend Ernst werden. Und mit jedem zurückgelegten Kilometer sind die Seelen etwas malträtierter, die Körper etwas lädierter, die Nerven etwas strapazierter, die Karren etwas ruinierter. Nur Tim weint irgendwann nicht mehr. Womöglich ahnt auch der kleine Plaggeist: Es wird schon alles wieder gut.