von Sandro Danilo Spadini
In der Kürze mag wohl die Würze liegen. Doch am Ende der 88 Minuten von «Terraferma» bleiben gleichwohl eine gewisse Fadheit zurück und die Erkenntnis: Das hätte jetzt ruhig noch etwas länger dauern dürfen.
Und das nicht, weil man noch nicht genug bekommen hätte von den traumhaften Postkartenansichten, die uns Regisseur Emanuele Crialese da in seinem Viertling vorführte. Nein, vielmehr hätte man von
den nun leider flach gebliebenen Figuren gerne mehr erfahren. Von Filippo (Filippo Pucillo) vielleicht, dem leicht einfältigen 20-Jährigen, der sich im heiteren Teil des Films ein bisschen
verliebt und im tragischen Abschnitt schwere Schuld auf sich lädt. Oder von seiner Mamma Giulietta (Donatella Finocchiaro), die hier, auf der sizilianischen Insel Linosa nahe Lampedusa, keine
Zukunft sieht, weil sie nur zwei Monate im Jahr Arbeit hat. Oder von Nonno Ernesto (Mimmo Cuticchio), der wie die meisten Alten auf Linosa noch immer für die Fischerei lebt – obwohl es laut einem
anderen «Anziano» inzwischen immer weniger Fische im Wasser hat, dafür immer mehr Menschen: lebende und auch tote. Was damit gemeint ist und nach einer halbstündigen Auslegeordnung dann
schliesslich thematisiert wird: Die rund 500 Einwohner dieser archaisch schönen Insel sehen sich sommers nicht nur mit einem Touristenansturm konfrontiert, sondern auch mit einem
Flüchtlingsstrom.
Gegensätze allenthalben
Solche Kontraste sind es, mit denen «Migrationsexperte» Crialese und sein Co-Schreiber Vittorio Moroni Reibung und Spannung erzeugen wollen: hier die erwünschten Eindringlinge von der Fähre aus
dem Norden wie die blonden Jungschnösel, denen Giulietta ein Obdach vermietet. Da die unerwünschten auf den Schlepperbooten aus dem Süden wie die schwangere Schwarzafrikanerin Sara (Timnit T.),
die Filippo und Ernesto erst aus dem Wasser retten und dann daheim vor den Behörden verstecken. Dieses Grossherzige der Leute einerseits und das Kleinmütige der Justiz andererseits ist nochmals
so ein Kontrast. Ebenso der Generationenkonflikt mit den touristisch orientierten Jungen und den auf der Fischerei beharrenden Alten. Und schliesslich auch Filippos und Ernestos Verwurzelt-Sein
auf der Insel gegenüber Giuliettas und Saras Sehnsucht nach der «Terraferma», dem Festland. Ferienfreuden vs. Flüchtlingsleid; Humanität vs. Repression; Tradition vs. Moderne; Heimat vs. Fremde:
Gespiegelt wird das alles in dem kristallklaren blauen Wasser, das so schön glitzert und doch so viel Unrat birgt – und überhaupt darin, dass Crialese ein solch düsteres Thema wie die unhaltbare
italienische Flüchtlingspolitik in Bilder packt, die vor Licht und Farbe bersten.
Authentisch, aber unrealistisch
Um das Spiel mit den Gegensätzen auf die Spitze zu treiben und noch auf eine weitere Ebene zu hieven, mischt Crialese der Tragik auch immer wieder etwas Komik unter. Das aber hätte es nun nicht
unbedingt gebraucht – wie sehr es einen nach manch krasser Szene auch nach Erholung dürsten mag. Doch dafür hat Crialese, der sich schon in «Respiro» und «Nuovomondo» als Freund des Meeres
präsentierte, ja seine kraftvollen Über- und Unterwasseraufnahmen. Nicht zuletzt zeigen sich in den komischen Momenten auch die Grenzen des schauspielerischen Geschicks von Filippo Pucillo, der
bei Crialese zwar Stammspieler, ansonsten aber fast ohne Einsätze ist. Dass seine Figur denselben Namen trägt wie er, ist derweil ein Beitrag an die Authentizität, der sich «Terraferma»
verschrieben hat. Doch wiewohl sogar das Flüchtlingsschicksal von Laiendarstellerin Timnit T. identisch ist mit jenem ihrer Sara, wirkt diese zu verzettelte Geschichte nur selten wie ein Abbild
der Realität. Denn letztlich hat der italienische Beitrag für die diesjährigen Oscars auch einfach zu wenig Fleisch am Knochen. Just als man hungrig nach mehr sein durchzogenes Urteil gemacht hat
freilich, kommt Crialese in letzter Minute mit einer Aufnahme für die Ewigkeit – was für ein Schlussbild! Und den Abspann auszusitzen, lohnt sich dann gleich auch noch. Zumal dort Sophie Hungers
fabulöse Version des Noir-Désir-Songs «Le vent nous portera» wartet – nach all dem Augen- also noch ein Ohrenschmaus.