Es wird kommen ein Ritter von der traurigen Gestalt

Nach 15 Chaosjahren feiert «American History X»-Regisseur Tony Kaye sein Kinocomeback. In «Detachment» blickt er aufs US-Schulsystem und verbreitet Weltuntergangsstimmung.

 

von Sandro Danilo Spadini

Er sei der grösste englische Regisseur seit Hitchcock, verkündete dieser Tony Kaye als fast bankrotter Werbefilmer einst mit ungesundem Selbstvertrauen per Anzeige. Als Hollywood-Novize reklamierte er dann Jahre später mit lässigem Selbstverständnis, man möge ihm gefälligst denselben Respekt erweisen wie seinem grossen und einzigen Vorbild Stanley Kubrick. Wohlgemerkt war Kaye da schon 45-jährig, und gedreht hatte er gerade seinen ersten Spielfilm: das Neonazi-Drama «American History X». Selbst dieses freilich machte in Kayes Logik sein Genie allenfalls erahnbar; schliesslich war ihm beim viel beachteten Debüt am Ende die kreative Kontrolle entrissen worden. Wie Kaye darauf reagierte, ist mit bizarr noch wohlwollend umschrieben: 100'000 Dollar gab er aus, um den für den Endschnitt besorgten Hauptdarsteller Edward Norton und die Produzenten in Inseraten zu schmähen; zu einem Schlichtungstreffen brachte er einen katholischen Priester, einen Rabbi und einen tibetischen Mönch mit; und den Verband der Regisseure verklagte er auf 200 Millionen Dollar, weil er seinen Namen vom fertigen Film nicht zurückzuziehen und durch «Humpty Dumpty» ersetzen durfte. In Hollywood, aber auch in seiner Stammbranche war der ehedem bestbezahlte Werbefilmer Englands nach diesem Ruf-Selbstmord fertig; selbst der nicht eben unexzentrische Marlon Brando wandte sich letztlich von ihm ab, nachdem er im Osama-bin-Laden-Kostüm am Set eines gemeinsamen Projekts erschienen war.  

In aller Deutlichkeit

Und jetzt ist dieser Tony Kaye also wieder da. Reuig und geläutert gibt er sich nach diversen gescheiterten, abgebrochenen oder unveröffentlichten Projekten: Viele «sehr, sehr, sehr kranke Dinge» habe er gemacht. Und da ist es irgendwie nur folgerichtig, dass er in seinem neuen Drama «Detachment» nun viel Krankes zeigt. Den Blick richtet der Universalkünstler, der auch malt, fotografiert und musiziert, hier auf das amerikanische Schulsystem, wo bekanntlich einiges im Argen liegt. Wie arg es tatsächlich (?) ist, zeigt uns Kaye in aller Deutlichkeit aus Sicht des Englisch-Aushilfslehrers Henry Barthes (Adrien Brody). Dieser Neuankömmling ist noch keine Minute im Klassenzimmer einer New Yorker Highschool, da ist er schon als «schwul» und «Arsch» beschimpft und auch körperlich bedroht worden. Doch seine Kollegin Sarah (Christina Hendricks), die von einer Mutter gerade als «Schlampe» tituliert und von deren Tochter bespuckt wurde, beruhigt ihn: «Es ist sicher hier.» Ein Trost scheint das indes für die wenigsten Lehrer zu sein. Sind sie nicht Zyniker wie der alte Charles (James Caan), so stehen sie vor dem Kollaps: ausgebrannt, verschlissen, zermürbt. Kein Wunder ist das angesichts einer Welt, wo ein Pickelgesicht in der Turnhalle eine Katze mit einem Hammer erschlägt; ein Mädchen halb nackt zur Schule kommt, weil das halt ihr «Style» sei; ein Vater die Schulpsychologin (Lucy Liu) einschüchtert, um an einen Gratis-Laptop zu kommen für sein Problemkind.

Eine fiebrige Note

Bloss Herr Barthes hat wohl noch Hoffnung. Und das, obwohl eine unendliche Melancholie ihn zu umfangen scheint. Auch das ist kein Wunder angesichts einer Welt, wo ein Makler in Sorge um sinkende Grundstückpreisen auf Schulreformen drängt; ein alter Mann im Pflegeheim sich selbst überlassen wird; eine Minderjährige im Bus Oralsex verrichtet. Henry wird sich auch um sie kümmern, denn der Greis ist sein Opa und das Mädchen vielleicht noch zu retten. Bald hat man aber Angst, dass es dieser faszinierenden und fantastisch gespielten Figur zu viel werden könnte. So wie es uns bisweilen zu viel wird bei diesem noch mit Ehekrieg, Selbstmord, Kindsmissbrauch gesättigten Exzess an apokalyptischem Horror, den Kaye fiebrig verfilmt: mit Interview- und Rückblendenschnipseln, Kamerawacklern und -unschärfen, Schwarzweiss- und Comiceinblendungen, Extremnahaufnahmen und Turbokamerafahrten. Schon in «American History X» zeigte sich, dass Kaye einem seine Botschaft bei allem Kunstanspruch zur Not auch mit dem Holzhammer einprügelt. Dass seine mitunter pathetische Anklage, die an Eltern, Lehrer und Gesellschaft gleichermassen ergeht, deutlich ankommt, liegt freilich auch an einer gewissen Exzellenz, die diesen Wahnsinnigen auszeichnet.