High über den Wolken und am Boden zerstört

Fliegender Teufelskerl, saufender Mistkerl: Denzel Washington erspielt sich in Robert Zemeckis tollem Comeback «Flight» als tragischer Held seine sechste Oscar-Nominierung.

 

von Sandro Danilo Spadini

Ein richtiges Rockstar-Frühstück ist es, was William «Whip» Whitaker (Denzel Washington) diesen Morgen zu sich nimmt: Eine nackte Schöne (Nadine Velazquez) hat es sich auf ihm gemütlich gemacht; auf dem Nachttisch sind Kippen und Hochprozentiges schön griffbereit; und die Linie Koks ist auch schon gerüstet. «Mir ist etwas schwindlig», befindet Whip zwar. Aber der Flug geht ja erst um neun: mit der Nackten als Flight-Attendant – und ihm als Pilot. Als Whip im Cockpit hockt, ist er dann sicher etwas gezeichnet vom multitoxischen Müssiggang. Doch ein schwarzer Kaffee mit viel Zucker, zwei Aspirin, ein kräftiger Schluck Sauerstoff, und los gehts mit 102 Seelen an Bord von Orlando nach Atlanta. Nachdem er den ruppigen Start gemeistert und sich hernach drei Wodkas und ein Nickerchen gegönnt hat, treten kurz vor dem Landeanflug freilich heftige Materialprobleme auf. 20 Minuten in Robert Zemeckis «Flight» drin kommts dann auch schon zum Sinkflug – wobei Whip tiefenentspannt ist wie beim Sex-Koks-Schnaps-Frühstück. Selbst in Turbulenzen gerät er erst so richtig, als er nach seinem Mordsmanöver und der Rettung von immerhin 96 der 102 Menschenleben im Spitalbett aufwacht. Denn kaum ist er bei Sinnen, wird er von den Herren der Transportsicherheitsbehörde befragt. Und diese haben nicht nur einen Höllenrespekt vor seinen Flugkünsten, sondern auch einen Bluttest vor sich, der Ungünstiges über ihn aussagt.

Wieder auf dem Boden

Es ist ein ausgesprochen «erwachsener» Start, den der schon länger eines Hits harrende Zemeckis hier hinlegt: viel nackte Haut, massig Suchtmittel, reichlich derbe Sprache – nicht zuletzt im parallel lancierten Plot eines zweiten Absturzes, jenem der Junkiefrau Nicole (Kelly Reilly). Das überrascht zunächst mal bei einem, der sich mit Leichtverdaulichem wie «Back to the Future», «Forest Gump» oder zuletzt «A Christmas Carol» gerne gerade einem jungen Publikum angedient hat. Dass er mit «Flight» nun ganz andere Wege geht, wird sich bis zum Abspann nach stattlichen 138 Minuten aber sogar noch verdeutlichen. Von einer plötzlichen Ernsthaftigkeit wird man da nämlich sowohl Zemeckis erlebt haben als auch Drehbuchautor John Gatins, der es bislang mehr sportlich mochte («Coach Carter», «Real Steel») – zumal sich die beiden nach dem Kickstart überaus umsichtig geben und es ungleich ruhiger angehen lassen, nachdem sie ihr Vehikel wieder auf den Boden geholt haben.

Erschütternd wie der Absturz

Keineswegs lässt sich das von Whip behaupten: Der Teufelskerl hebt zwar nicht ab, wenn ihm sein Gewerkschaftsvertreter (stark: Bruce Greenwood) attestiert, ein Wunder vollbracht zu haben, und sein Spinnerkumpel (glorios: John Goodman) ihn einen Helden nennt; gleichwohl entgleitet ihm angesichts der drohenden lebenslänglichen Haftstrafe zunehmend der Boden unter den Füssen. Und spätestens als ihn die mittlerweile cleane Nicole, die ihm im Spital ans Herz gewachsen war, schon wieder verlässt wegen der ewigen Trinkerei, gebärdet er sich wie ein Mistkerl. Diesem sind wir indes auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, nehmen Zemeckis und Denzel Washington uns doch fest in Whips Schlepptau. Was man mit ihm durchleidet, ist letztlich ein Alkoholikerdrama reinsten Wassers mit Entwöhnungsversuchen, Rückfällen, Traueranfällen, Wutausbrüchen und der ganzen Palette menschlicher Enttäuschungen – so, wie Hollywood es seit je erzählt. Und doch wirkt «Flight» frisch. Das hat sehr viel zu tun mit dem bewegenden und gleichzeitig geerdeten Spiel von Washington, das ihm seine sechste Oscar-Nominierung eingetragen hat. Mehr aber noch damit, wie sich Skript und Regie der fesselnden juristischen und moralischen Fragen annehmen, die dieser so facettenreiche Fall stellt: Statt sie in zähen rechtlichen Debatten und pathetischen persönlichen Diskussionen zu erörtern, treten Zemeckis und Gatins auch mal an Stelle und schauen sich wachen Geistes um und diesen Whip Whitaker genauer an. Gewiss: Das kann bisweilen ebenfalls zäh sein und ist im Finale auch ein wenig pathetisch; vor allem aber ist es dem Thema und der Tragik angemessen – und am Ende geradeso erschütternd wie der Flugzeugabsturz am Anfang.