von Sandro Danilo Spadini
Das Wichtigste sei, stets bereit zu sein, hat Keller Dover (Hugh Jackman) seinem Sohn gerade noch eingebläut. Doch für das, was seiner Familie an diesem Thanksgiving-Abend gleich widerfahren
wird, kann auch er unmöglich bereit gewesen sein. Und auch all die Gebete, deren erstes dieser strenge, gläubige, bärtige Schreiner aus Pennsylvania schon über den Prolog gemurmelt hat, nützen
ihm nun nichts. Denn jetzt ist alles still und dunkel, das Leben geht nicht weiter. So lange nicht, bis seine sechsjährige Tochter, die zusammen mit dem Nachbarmädchen im Regen verschwunden ist,
wieder aufgetaucht ist. Und bis das geschehen ist und das Leben vielleicht doch noch weitergehen kann, bleibt Keller ein Tier und wird diesen Alex Jones (Paul Dano) quälen und schlagen und
foltern. Der Blick ist nun erstarrt, das Herz eingefroren, das Hirn ausgemacht. Tollwütig, blindwütig, kaltblütig stürzt sich Keller auf den linkischen Jüngling mit dem IQ eines Zehnjährigen, den
Inspektor Loki (Jake Gyllenhaal) längst von seiner Verdächtigenliste gestrichen und aus der U-Haft entlassen hat. Doch jetzt ist Alex trotzdem ein Gefangener. Wie die Mädchen. Und wie Keller, der
sich heillos verrannt hat beim Versuch, aus dem Schmerz zu fliehen.
Stiller Thriller
Dabei hat doch Loki ihm und seiner Frau (Maria Bello) noch versprochen, er werde ihr Mädchen finden. So wie das einst Matthäi bei Dürrenmatt getan hat. Aber wie dort befürchtet man auch in
«Prisoners», dass die Geschichte erst dann zu
Ende erzählt sein könnte, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen hat. Denn es gibt hier kaum etwas unter dem stets wolkenverhangenen Himmel, was dafür spricht, dass das alles doch noch
irgendwie gut ausgehen wird. Nach und nach treten zwar Parallelen zu früheren Fällen zutage; doch eine Spur um die andere führt ins Leere und schliesslich in ein Labyrinth, das auch nur ein
Hirngespinst sein könnte. So ziehen sich die Ermittlungen ergebnislos hin; und so, wie sich die Tage dehnen für die gramgebeugten Eltern, so schleppend schreitet auch das Hollywood-Debüt des
Kanadiers Denis Villeneuve voran. Fast lautlos zieht sein stiller Thriller seine Bahnen durch den Schnee, durch die kahlen Wälder, durch die nassen Strassen. Und jederzeit, jede einzelne Sekunden
seiner monumentalen 153 Minuten Spielzeit, entwickelt er einen Sog und zieht in seinen Bann und schnürt einem den Atem ab. Er tut das kraft einer ungemein dichten Atmosphäre, wie sie nur den
besten Vertretern seines Genres eigen ist. Er tut es auch mit Bildern von schauriger Schönheit und Plots voll schrecklicher Spannung. Und er tut es nicht zuletzt mit der Hartnäckigkeit eines
moralischen Dilemmas und der Vertracktheit religiöser Ambivalenzen, wie sie diesem Genre wiederum eher fremd sind.
Gut und Böse
Diese letztere Qualität ist es, die «Prisoners» zu einem raren Gut im heutigen Kino macht und zu Meilensteinen wie «Mystic River», «The Silence of the Lambs» oder «Seven» aufschliessen lässt. Wie
der junge Québécois Villeneuve in seinem englischsprachigen Erstling die Hölle über das gottesfürchtige Vorstadt-Amerika hereinbrechen lässt, verrät ebenso bereits den grossen Meister wie sein
abgeklärter Umgang mit der Symbolik. Um Villeneuves kluge Ansichten zum Thema Gewalt durfte man freilich schon wissen; schliesslich hat er sich doch mit dem beklemmenden Schulmassaker-Drama
«Polytechnique» und dem Ausland-Oscar-nominierten Kriegsdrama «Incendies» sein Sprungbrett nach Hollywood gezimmert. Dass Aaron Guzikowski nach seinem schmucklosen ersten Versuch beim
Schmugglerthriller «Contraband» im zweiten Anlauf ein solch vielschichtiges Drehbuch vorlegen würde, macht da schon mehr staunen. Die Frage nach Gut und Böse, die stets auch in der kalten Luft
liegt, geht er so dezent wie dezidiert an, und die nervenzerfetzende Kriminalhandlung ist darob weder zu dominant noch zu diskret. Unerwartete Höhen erklimmen schliesslich auch die beiden
Durchschnittsschauspieler Hugh Jackman und Jake Gyllenhaal. Sie hat man noch nie so rasend und fanatisch, so rabiat und fantastisch gesehen wie hier in diesem selten makellosen Film.