von Sandro Danilo Spadini
Was radikalisiert einen Menschen so sehr, dass er zum Terroristen wird? Um das schlüssig zu beantworten, braucht Regisseur James Marsh in seinem vierten Spielfilm «Shadow Dancer» nur eine Szene: Ein Mädchen sieht ihren
kleinen Bruder auf dem Wohnzimmertisch sterben. An einer Schussverletzung. Weil sie ihn zum Zigarettenholen für den Vater geschickt hat. Wir sind in Belfast. Es ist das Jahr 1973. Es ist die Zeit
der Eskalation im Nordirland-Konflikt. Und es ist die Zeit, in der sich Menschen wie die kleine Collette und ihre Brüder der «Sache» verschreiben. 20 Jahre später sind die «Troubles», wie sie im
Englischen heissen, noch immer nicht ausgestanden. Wir treffen Collette (Andrea Riseborough) nun als traurige junge Frau in einer Londoner U-Bahn. Wir wissen: Gleich wird Schlimmes geschehen.
Daran lässt Marsh in der fast dialoglosen zweiten Sequenz des Films keine Zweifel. In quälend langen Einstellungen geht er mit Collette diesen Weg. Bis sie die ominöse Tasche abstellt. Die Flucht
ergreift. Und in Gewahrsam genommen wird. Die Bombe ist freilich nie hochgegangen, und Collette sitzt jetzt dem MI5-Agenten Mac (Clive Owen) gegenüber und muss eine unmögliche Entscheidung
treffen: Zur irischen Sache stehen und dafür 25 Jahre ins Gefängnis gehen? Oder ihre Brüder aushorchen und dafür ihren Sohn aufwachsen sehen?
Angespannt statt spannend
Collette entscheidet sich für Letzteres. Und damit könnte nun ein Katz-und-Maus-Spiel losgehen. Doch Marsh, der für den Dokfilm «Man on a Wire» 2009 den Oscar gewann, und Drehbuchautor Tom
Bradby, der hier seinen eigenen Roman von 1998 adaptiert hat, haben anderes vor. Zwar schildern sie sehr wohl die eine oder andere brenzlige Situation. Doch zuerst wollen sie Atmosphäre erzeugen
– ein Gefühl geben für dieses Trostlose, dieses Klaustrophobische, dieses Gefahrvolle. Sie tun das, indem sie die Geschichte leise und langsam auffächern und sie mit maximaler Kälte und Klarheit
ausstaffieren. Es gibt hier keinen Lichtblick. Keinen Hoffnungsschimmer. Keinen Silberstreif. Denn der Horizont ist stets grau. Bleiern wie die Zeit. Und immer braut sich etwas zusammen. Erst
gegen Ende hin gibt es auch mal einen Moment der Freude. Doch das Glück ist brüchig und flüchtig. Und in der Tat vergeht keine Filmminute, da sind die Schatten schon wieder zurück. Auf den
Gesichtern. Und in den Herzen. Dabei aber verweigert Marsh nun fast jeden Thrill; bisweilen ist sein Film jetzt geradezu stoisch. Doch dieses Stoische hat auch eine hypnotische Note. Und so wird
dieses gleichzeitig stilisierte und realistische Stimmungsstück nun endgültig zum Antithriller: zu einem Film, dessen Drehbuch zwar selten Nervenkitzel bietet, dessen straffe Inszenierung jedoch
für konstante Nervosität sorgt. Mehr angespannt als spannend ist das letztlich somit.
Bemerkenswert still
Dass der Film in Belfast und den frühen Neunzigern spielt, ist dann nur nebensächlich. Denn um das Politische sind Marsh und Bradby kaum bekümmert. So verzichten der Dokfilmer und der
Fernsehjournalist quasi entgegen ihrer Natur denn auch weitgehend auf historisierende Elemente wie Originalaufnahmen oder Texteinblendungen. Ein Film über Krieg und Terrorismus ist «Shadow
Dancer» also ebenso wenig wie ein Thriller reinen Wassers. Vielmehr und am überzeugendsten ist das eine Charakterstudie. Wobei Marsh darauf verzichtet, das Offensichtliche auszubuchstabieren:
dass Collette ihren Sohn liebt, ihre Brüder, ihre Mutter, ihr Land, die Sache. Um ihr Loyalitätsdilemma zu schildern, fordert er von seiner ohnehin angenehm geerdeten Hauptdarstellerin auch keine
Gefühlseruptionen ein – im Wissen, dass Andrea Riseboroughs trauerleere Augen da weit mehr erzählen. Und auch sonst ist es bemerkenswert still hier. Sogar Clive Owen schreit für einmal kaum rum.
Wiewohl er natürlich mürrisch ist. Aber das sind hier alle. Denn es ist dies eine Welt der vergrämten Seelen und verhärmten Herzen. Der bösen Blicke und geballten Fäuste. Der gebrochenen
Versprechen und verratenen Träume. Und es ist eine muffige, schäbige, traurige Welt, wo die Sache die Menschen längst vergessen hat – und wo es nur mehr harte Entscheidungen gibt.