Am Ende eines normalen amerikanischen Tages

24 Stunden bis zum Drama: In seinem so berührenden wie bestürzenden Debüt «Fruitvale Station» analysiert Indie-Regisseur Ryan Coogler ein reales Durchschnittsleben in der Unterschicht.

 

von Sandro Danilo Spadini

Zwei Stunden erst ist das Jahr 2009 alt, da kommt es an der U-Bahn-Haltestelle Fruitvale Station in Oakland zur Katastrophe. Rassenunruhen in der nordkalifornischen Bay Area und Debatten in nationalen Medien werden folgen. Doch das interessiert den 27-jährigen Regieneuling Ryan Coogler jetzt nicht. Auch dem Drama selbst, das zahlreiche Zeugen mit ihren Handykameras gefilmt haben, gilt sein Fokus nicht primär. Seine Geschichte ist die des Lebens von Oscar Grant III (Michael B. Jordan), jenes Mannes, der im Zentrum all dessen steht, was uns am Ende der 85 Minuten von «Fruitvale Station» wie eine Keule treffen wird. Dabei wissen wir doch, dass dieser recht normale Tag in Oscars Leben, den Coogler stellvertretend für ein amerikanisches Durchschnittsleben in der Unterschicht dokumentiert, böse enden muss. Wir haben die Handyaufnahmen ja auch gesehen. Haben die Schreie der Leute gehört, das Fluchen und die Empörung. Haben die Aggression der Polizisten gesehen, die Tritte und die Schläge. Und haben schliesslich diesen Schuss gehört. Dann aber ist die Leinwand schwarz geworden, und es war still.

Mit Herz, ohne Pathos

Was genau passiert ist in der Fruitvale Station um 2.15 Uhr am 1. Januar 2009, mögen viele Amerikaner zwar wissen. Coogler, der selbst aus Oakland stammt, zeigt es zunächst gleichwohl nicht. Für das hiesige Publikum hat dies freilich eine vielleicht nicht intendierte, aber ziemlich entscheidende Auswirkung darauf, wie es diesen Low-Budget-Film erlebt: Nicht nur die Spannung, sondern auch ein wenig Hoffnung bleibt so, dass es womöglich doch nicht zum Schlimmsten gekommen ist. Und diese Hoffnung kommt von Herzen, denn bis uns Coogler nach einer Stunde zurück in die Fruitvale Station führt, ist uns Oscar längst vertraut geworden. Sind wir emotional hinreichend eingebunden. Sind wir im besten Sinne präpariert worden von einem ganz erstaunlichen Jungregisseur, der sich keiner pathosgetränkten Märtyrerverherrlichung verdächtig macht und nichts schönredet. Stattdessen zeigt er auch all die charakterlichen Mängel seines Helden und die ganzen Fehler, die dieser in den 22 Jahren seines Lebens gemacht hat: dass er seine Freundin (Melonie Diaz) betrogen hat; wie er immer wieder unnötig aufbraust; dass er einen Hang zum Lügen hat; wie er genau ein Jahr zuvor (in der einzigen Rückblende des Films) im San-Quentin-Knast eincheckt. Wenn die Kamera aber so an Oscar klebt, bleiben uns auch dessen gute Seiten nicht verborgen. Wir lernen einen jungen Mann kennen, der sich ein Herz und den Neujahrsvorsatz gefasst hat, sein Leben auf die Reihe zu kriegen. Wir sehen einen liebevollen Vater, der mit seiner Vierjährigen rumalbert. Einen hilfsbereiten Sohn, der seine Mutter (Oscar-Preisträgerin Octavia Spencer) bei den Vorbereitungen zu ihrer Geburtstagsparty unterstützt. Einen fürsorglichen Bruder, der seiner Schwester die Miete vorstreckt. Einen gereiften Partner, der seiner Freundin nur mehr die Wahrheit sagen will. Einen charmanten Kerl, der für eine Fremde seine Grossmutter wegen eines Fischrezepts anruft. Und einen Mann mit den besten Absichten, der um seinen gerade verlorenen Job kämpft und einen Drogendeal sausen lässt.

Ein kommender Superstar

Es ist ein Spiel mit den Gegensätzen, das Coogler da betreibt. Nicht nur in der Schilderung seines Helden, den Novize Michael B. Jordan mit dem Nuancenreichtum eines kommenden Superstars spielt. Sondern auch in der ideal getimten und perfekt temperierten Inszenierung dieses Amerika der (schwarzen) Unterschicht: Da folgen auf Bilder urbaner Trostlosigkeit mit den obligaten harten Hip-Hop-Beats bald Szenen vollkommener Glückseligkeit, die mit zarten Dream-Pop-Klängen unterlegt sind. Und da ringt Coogler mit seinem naturalistischen Ansatz der rauen Realität und dem Schatten der angekündigten Katastrophe immer wieder poetische Momente ab. Mit einem solchen endet er dann auch. Es geht ihm auch jetzt, am Ende des Tages, nicht um Schuld und Strafe, Politik und Polemik. Es geht ihm in seinem tief berührenden und so unendlich bestürzenden Film auch in dessen dunkelsten Minuten noch vor allem um eines: die Menschen in diesem Drama.