von Sandro Danilo Spadini
Das ist die Entscheidung, die ich getroffen habe», sagt Ivan Locke (Tom Hardy) in die Freisprechanlage seines SUV. Er sagt das in einem Ton, der keinen Raum für Zweifel lässt: behutsam, besonnen,
bestimmt, beinahe beschwörend. Es ist der Ton, den Ivan auch für den Rest dieser Nachtgeschichte anschlagen wird. Und das ist sicher nicht verkehrt. Denn Ivan wird in den kommenden 80 Minuten
viele Leute sehr wütend machen. Dabei will er einfach das Richtige tun: für diese eine Sünde geradestehen, Abbitte leisten. Das erfordert, dass er spätabends von Birmingham nach London fährt.
Dass er nicht nach Hause kommt. Obwohl die Gattin (Ruth Wilson) bereits die Würstchen besorgt hat und das deutsche Bier, das er so mag. Obwohl sie daheim alle schon das Trikot des Lieblingsklubs
tragen. Doch aus dem Fussballabend wird nichts: «Es ist etwas dazwischengekommen.» Sagts und macht den nächsten Anruf. Stösst die nächste Person vor den Kopf. Diesmal ists der Chef (Ben Daniels).
Er wird morgen auf ihn verzichten müssen: wenn Ivan als Vormann eigentlich Europas grössten Betonguss beaufsichtigen sollte – für ein 100-Millionen-Pfund-Projekt, ein 55-stöckiges Gebäude, «mein
Gebäude». Doch Ivan bleibt eisern: «Ich habe keine andere Wahl.» Und da ist noch eine «Liste von Dingen, die ich erledigen will, während ich fahre».
Fulminanter Tom Hardy
«All Is Lost» hiess das Ein-Mann-Stück, in dem Robert Redford auf hoher See in die Bredouille geriet. Alles verloren wird am Ende wohl auch für Ivan sein in Steven Knights Kammerspiel «Locke». Äussere Einflüsse wie bei Redford werden dabei
indes keine Rolle spielen. Wiewohl auch der auf der Autobahn ablaufende Regiezweitling des Drehbuchautors von «Eastern Promises» anders als die meisten Ein-Personen-Geschichten das Element der
Bewegung als Handlungsbeschleuniger im Kofferraum hätte. Doch Knight interessiert das wenig, die Autobahn hat nur eine atmosphärische Funktion, der Wagen ist Mittel zum Zweck, und «der Verkehr
ist okay», wie Ivan mantramässig wiederholt. Knight vertraut vielmehr auf die Klasse seiner Schreibe. Auf die Stimmkunst der zwar unsichtbar, aber nicht gesichtslos bleibenden Co-Stars. Und auf
die fulminante Präsenz von Tom Hardy, diesem Hochbegabten und oft Unterschätzten, diesem Muskelberg von einem Kerl, der dem Kampfsportler im brillanten «Warrior» und dem bösen Bane in «The Dark
Knight Rises» Herz und Seele gab. Und mehr braucht es tatsächlich nicht, um einen fesselnden und im Schein der Nachtlichter gleichzeitig betörenden Film zu erzählen. In Thrillermanier lässt
dieser zunächst offen, was es denn ist, das Ivan verbrochen hat. Was es mit der Frau im Londoner Krankenhaus (Olivia Colman) auf sich hat, zu der er fährt. Klar ist indes: «Sie ist sehr fragil.»
Und dass es ernst ist. Deshalb telefoniert Ivan nun in einem fort. Mit der Gattin. Mit den Söhnen. Mit der Frau im Krankenhaus. Mit dem Chef. Mit dem Assistenten (Andrew Scott), der jetzt die
Baustelle managen muss und darüber Blut schwitzt. Und dann wieder mit der Gattin. Mit den Söhnen. Und immer so weiter. Bis zum Abspann.
Es ist, wie es ist
Vieles wiederholt sich hier also, und Ivan wiederholt sich ebenso manches Mal: dass er keine andere Wahl habe, dass alles gut werde, dass er bald da sei. Inhaltlich ist die Aufstellung denn auch
so schnell gemacht und so minimalistisch wie formal: Es ist nicht schön, aber es ist, wie es ist, und es gilt jetzt das Beste daraus zu machen. Das Drama entfaltet sich deshalb freilich nicht
linder und schwerfälliger – aber langsamer und schmerzvoller. Alle dreschen sie dann auf Ivan ein. Verlieren die Kontrolle. Aus Wut. Aus Angst. Vom Stress. Vom Alkohol. Und alle drehen sie
schliesslich durch. Sogar Ivan verliert für kurze Augenblicke die Fassung. Fängt an mit seinem Vater zu reden, diesem «Stück Scheisse», das schon längst unter der Erde liegt. Jetzt endlich
bröckelt einmal die Fassade dieses stoischen Homo faber, der sicher ein guter Mann ist. Ein guter Gatte. Ein guter Papa. Ein guter Arbeiter. Der aber diesen einen Fehler gemacht hat, für den er
nun anders als der Vater damals die Verantwortung übernehmen wird. Koste es, was es wolle.