von Sandro Danilo Spadini
Diesen Typen hat man schon hundertfach in amerikanischen Filmen gesehen: teurer Anzug, grosse Klappe, glitschiges Gewissen – ein Staranwalt halt. Er habe keinen Respekt für das Gesetz, hält ihm
ein Kontrahent entgegen; doch Hank Palmer (Robert Downey Jr.) meint bloss: «Für Unschuldige bin ich zu teuer», und prahlt noch ein bisschen von seinem Ferrari und seiner Frau mit «dem Arsch einer
Highschool-Volleyballspielerin». Nur Augenblicke später jedoch wird eine Voicemail ihm die Selbstgefälligkeit aus dem Gesicht treiben: Seine Mutter sei gestorben, hört er da. Und bald darauf
braust er nach einem Geplänkel mit der scheidungswilligen Volleyball-Frau im Vintage-Ferrari an den Chicagoer Flughafen. Daheim in Carlinville, Indiana, erwartet ihn dann nicht nur die
aufgebahrte Leiche seiner Mutter, sondern auch ein Vater (Robert Duvall), der für ihn längst tot ist. Entsprechend unfroh ist er hier – trotz der Brüder (Vincent D’Onofrio, Jeremy Strong), seiner
Jugendliebe (Vera Farmiga) und einer viel zu jungen Kellnerin (Leighton Meester). Und obwohl dieses Carlinville, Indiana, aus dem er einst regelrecht geflüchtet war, so pittoresk ist wie eine
Nicholas-Sparks-Kulisse.
Angeklagt im eigenen Gericht
Warum es Hank derart graust, wird erahnbar, nachdem man seinen Vater das erste Mal hat referieren hören. Joseph Palmer ist hier seit 42 Jahren Richter; und ihm wohnt nicht nur auf der Bank,
sondern auch daheim auf der weiss gestrichenen Veranda jener Hang zum selbstgerechten Predigen inne, den man erwartet von einem, der seit 42 Jahren Richter in einer Kleinstadt ist. Zwar scheint
sein Geist an Frische und seine Rede an Schärfe verloren zu haben – das Alter! Für manche Spitze gegen den Sohn, der ihn tatsächlich auch «Judge», Richter, nennt, reicht es dann aber doch noch.
Natürlich wird sich ihr Verhältnis später bessern. Schliesslich hat «The Judge» nicht nur einen Helden, den man hundertfach andernorts gesehen hat, sondern auch eine ebensolche Handlung. Es geschieht so
denn das, was stets geschieht, wenn einer von der grossen Stadt heim in die Provinz kommt: Erinnerungen erwachen; Familiengeheimnisse lüften sich; eine alte Liebe erblüht; Heimatgefühle
spriessen. Dass es zu all dem überhaupt kommt und Hank nicht schon längst wieder in Chicago ist, ist einem neuerlichen Anruf mit Schockbotschaft geschuldet: Sein Vater sei verhaftet worden,
heisst es diesmal – unter Mordverdacht, wie sich kurz darauf herausstellt! Offenbar hat der Alte in seinem 73er-Cadillac DeVille einen Kerl totgefahren, mit dem er noch eine Rechnung offenhatte.
Nun wird «The Judge» vom Familien- obendrein zum Justizdrama, und auch dabei baut Regisseur David Dobkin («Wedding Crashers») auf Altbewährtes und bisweilen Altbackenes: einen Tölpel von
Dorfanwalt (Dax Shepard), einen Staatsanwalt zum Fürchten (Billy Bob Thornton) und einen respektgebietenden Gerichtssaal, in den durch halb geschlossene Jalousien gülden das Licht der Tugend
dringt. Und ob der Choreografie von Steven Spielbergs Kameramann Janusz Kaminski hört man gar die Nachtigall trapsen und glaubt noch, dass bald Gregory Peck als Atticus Finch aufkreuzt und zum
Tanz der Gerechten bittet.
Eine lange Achterbahnfahrt
Hier merkt man, dass das für den Komödienspezialisten Dobkin ein noch glattes Parkett ist. Kein Wunder auch, flüchtet er sich gerne in Humor, um sich bei dem ganzen salbungsvollen Drama ein wenig
Luft zu verschaffen – mit Robert Downey Jr. hat er ja auch den Typ dafür. Mit ihm hat er aber auch einen Typ, der unter der glatten Oberfläche seine Abgründe hat – der in die Tiefe gehen kann.
Selbst er und der ebenso fantastische Robert Duvall können in wahren Paraderollen freilich nicht verhindern, dass «The Judge» während seiner allzu stattlichen 140 Minuten Spielzeit immer wieder
mal auf der Anklagebank landet. Da gibt es neben grossartigen, warmherzigen, fraglos scharfsinnigen Momenten eben auch nutzlose, belanglose und hemmungslos rührselige Passagen. Es ist hier wie
auf der Achterbahn: aufregend zwar, aber holprig. Und dann dieses Gequatsche! Wie eine Beziehung kann man auch einen Film zerreden, denkt man. Aber dann kratzt der wieder haarscharf die Kurve,
und man urteilt doch noch: nicht schuldig.