Wild trieben es die jungen Börsianer

Das Team Scorsese-DiCaprio lässt in «The Wolf of Wall Street» drei Stunden lang die Sau raus. Am Ende ist man zwar nicht klüger, aber so beglückt wie die dekadenten Helden.

 

von Sandro Danilo Spadini

Die Welt des Investments kann ein Dschungel sein», warnt zum Start von Martin Scorseses «The Wolf of Wall Street» der Werbespot einer New Yorker Brokerfirma. Was deren Gründer Jordan Belfort (Leonardo DiCaprio) damit meint, erfahren wir dann prompt und präzis. Das Popcorn ist noch warm, da hat er sich bereits hinterm Steuer seines Ferrari oral erquicken lassen; im Handelsraum einen Kleinwüchsigen auf eine Zielscheibe geworfen; vom Hintern einer Prostituierten Koks hochgezogen; im Chefsessel 100-Dollar-Noten zerknüllt; auf seinem Anwesen delirierend einen Helikopter «gelandet». Und zu alledem sondert der Grosskotz im Off oder in die Kamera als unser Moderator seine Sentenzen ab. «Ich nehme täglich so viele Drogen, dass man damit Manhattan, Queens und Long Island betäuben könnte», prahlt er, der mit 26 schon 49 Millionen gescheffelt hatte – «was mich wirklich angepisst hat, weil es 3 Millionen von 1 Million pro Woche entfernt war». Ein Antiheld wie die Cagney-Figuren aus der goldenen Gangsterfilm-Zeit und die De-Niro-Psychos beim jungen Scorsese ist das. Und das Unfassbare daran: Diesen Jordan Belfort gibts tatsächlich. Er wurde 1998 wegen Wertpapierbetrug und Geldwäsche verurteilt, verriet alle seine Spezis, sass läppische 22 Monate ab und schrieb seine Memoiren, die Terence Winter («The Sopranos») nun für Scorsese adaptiert hat.

Die Party beginnt

Die dekadenten Börsianer haben den 71-jährigen Regiegott nun offenbar so fasziniert wie einst die Mafiosi in «GoodFellas» und «Casino». Und deshalb schenkt er auch ihnen satte drei Stunden unserer Zeit. Am Ende dieser exzessiven Extravaganz, dieses barbarischen Bacchanals, dieses revueartigen Remmidemmi, dieses orgiastischen Orgasmus ist man zwar nicht klüger – aber so beglückt und benebelt und belustigt und berauscht wie Belfort und Co. Zu Atem kommen lässt uns Scorsese nämlich bis kurz vor Ende allenfalls für Augenblicke. Etwa als Belfort, der Mittelschicht entstammend, von einem Buchhalterpaar grossgezogen, in einem Mini-Apartment in Queens aufgewachsen, 1987 als Chorknabe von 22 Jahren dem Bus an der Wall Street entsteigt. Die Post geht aber bereits wieder ab, als er vom wieder bombastischen Matthew McConaughey als seinem irren Mentor in spe instruiert und endlich initiiert wird. Im Börsenmekka fühlt sich Belfort dann als lizenzierter Broker genau einen Tag lang zwar schon als «Master of the Universe»; die Welt erobert er nach dem «Black Monday» aber in einem umgebauten Lagerraum in Long Island mit einem Team aus Proloclowns: Im Penny-Stock-Markt wird Belfort zum Wolf der Wall Street, der die Kunden verachtet und verarscht, dabei aber mit Kleinvieh enorm viel Mist macht. Und was dabei an Mist gebaut wird, geht auf keine Kuhhaut. «Eine Orgie aus Gier, Kokain, Testosteron und Körperflüssigkeiten» sei das gewesen: «Es war obszön. In der normalen Welt. Aber wer wollte schon da leben?»

Explosive Energie

Dass das nun nicht zur vulgären Plage verkommt, sondern ein perverses Vergnügen wird, schuldet sich dieser fiebrigen cineastischen Energie, wie sie nur der hyperaktive Martin Scorsese entfachen kann. Und der beängstigenden Explosivität, mit der sich Leonardo DiCaprio zu einem neuen Allzeithoch tobt und wütet. Ebenso der kruden Komik eines Jonah Hill in der Rolle von Belforts engstem Kompagnon und dem schmierigen Charme von Jean «The Artist» Dujardin als Schweizer Banker. Und nicht zuletzt den Momenten namenlosen Wahnsinns, wo die Blase dieses Lebens hoch über der Überholspur zu platzen droht und der Crash nahe ist. Von derlei Avancen nicht bezirzen liess sich das US-Wirtschaftsmagazin «Forbes», das hier eine erneute Verzerrung der Wall Street ausmacht und den Film «primitive Pornografie» nennt. Und noch weniger erfreut waren jene, die Scorsese Glorifizierung vorwerfen und Belforts Opfer zu wenig gewürdigt sehen. Das ist angesichts des heiter-satirischen Tons natürlich nicht wegzulächeln. Aber einer solch bizarren Lebensbeichte ohne übermütige Masslosigkeit und mit der gebührenden Moral zu begegnen, ist auch nicht einfach. Und ob es nach drei Stunden des aus allen Maschinengewehrrohren abgefeuerten Turbozynismus und der mit voller Wucht aufs Auge gedrückten Wildsauerei noch eines Mahnfingers bedarf, ist wirklich fraglich.