Die Welt ist ein Gartenhäuschen

Im Drama «Room» wird eine junge Frau seit Jahren mit ihrem Sohn auf engstem Raum gefangen gehalten. Wie sie das überlebt, zeigt Newcomerin Brie Larson in ihrer Oscar-prämierten Parforce-Performance.

 

von Sandro Danilo Spadini

Dreieinhalb auf dreieinhalb Meter – so gross ist die Welt für Jack (Jacob Tremblay). Mehr hat er in den fünf Jahren seines Lebens nicht gesehen. Nur diesen Raum, diesen vollgestellten Raum mit dem Bett, der Badewanne, dem Fernseher und der Küche, der draussen in der richtigen Welt bloss ein verriegeltes schalldichtes Gartenhäuschen in Akron, Ohio, ist. In dieses ist Joy (Brie Larson), seine Mutter, noch vor seiner Geburt verschleppt worden. «Man hat mich gestohlen», erklärt sie ihm einmal. Und das ist in seinem kindlichen Ton genau treffend ausgedrückt, denn es ist mehr als die Freiheit, die man ihr genommen hat; es ist eine allumfassende Gefangenschaft in dieser zusammengeschrumpften Welt, in der sie immer wieder auch noch ihrer Würde beraubt wird – immer dann, wenn ihr «Old Nick» genannter Peiniger (Sean Bridges) ins Gartenhäuschen kommt, ihr die aufgetragenen Einkäufe aushändigt und im nächsten Moment, als wäre es das Natürlichste der Welt, sich seiner Kleider entledigt und sie ins Bett beordert. Jack ist dann im Schrank versteckt und versteht nicht ganz, was da gerade vor sich geht. Und wie soll er auch? Um ihn vor all den unerfüllbaren Träumen und ihm versagten Möglichkeiten zu schützen, hat Joy stets erzählt, nur ihr Raum sei real; der Rest sei bloss Fernsehfiktion. Doch das muss sich jetzt ändern. Nachdem «Old Nick» nämlich seine Stelle verloren hat und gewalttätig geworden ist, entschliesst sich Joy zur Flucht – in eine Welt hinaus, die für Jack gar nicht existiert.

Zimmer ohne Aussicht

Es müsste das eigentlich der Stoff für eine klaustrophobische Horrorfantasie sein, doch traurigerweise kommt einem die Geschichte von «Room» allzu bekannt vor. Sie basiert auf dem preisgekrönten gleichnamigen Roman der irisch-kanadischen Schriftstellerin Emma Donoghue, und dieser wiederum ist natürlich inspiriert von den beiden österreichischen Kellerdramen: der Natascha-Kampusch-Entführung und besonders dem Fall Fritzl, in dem eines der Opfer wie Jack in «Room» ein fünfjähriger Junge war. Ist der Roman denn auch aus Jacks Sicht und mit seinen Worten erzählt, so führt uns Donoghue bei ihrer Adaption fürs Kino nun ein gutes Stück aus dessen Kopf heraus – was sicherlich eine nötige Entscheidung war und die ohnehin schwierige Aufgabe für Regisseur Lenny Abrahamson etwas vereinfacht haben dürfte. Der Fokus verschiebt sich so automatisch hin zu Joy, die Newcomerin Brie Larson noch grandioser als ihre Figur im Drama «Short Term 12» spielt und dermassen gut gar, dass man ihr dafür diskussionslos den Golden Globe und den Oscar zugesprochen hat. Durch Mark und Bein fährt einem aber nicht nur ihre Parforce-Performance, sondern auch die monotone Routine und die scheinbare Normalität, die Abrahamson dem in matte Farben gekleideten Geschehen aufdrückt. Überhaupt setzt der Ire in seinem US-Debüt die meiste Zeit auf leise Töne; Lärm zu machen, scheint ihm angesichts der bedrückten Lage zwecklos.

Sie halten alles aus

Passiv ist Abrahamson deshalb aber nicht. Im Gegenteil, was er mit seinem exzellenten Kameramann Danny Cohen («The King’s Speech») auf engstem Raum herausholt, ist aller Ehren und war der Academy eine recht überraschende Oscar-Nominierung wert. Nicht das geringste seiner Kunststücke ist es, dass er die schauerlich-schäbige Atmosphäre und die trostlose Anspannung bis zum Ende aufrechterhalten kann – dies trotz veränderter Vorzeichen. Mehr darf über den zweiten Teil des Films dann aber nicht verraten werden; dass es Abrahamson darin zu Längen kommen lässt, soll indes nicht verschwiegen werden. Es schmälert das sein Verdienst allerdings nur minim, zumal er den Kern, das Herz, die Seele der Story für keine Sekunde aus den Augen verliert: die alles aushaltende Bindung zwischen Mutter und Kind. Die Hauptarbeit leisten dabei freilich die Darsteller, neben der – um es noch einmal zu betonen – überwältigenden Brie Larson auch der neunjährige Jacob Tremblay. Sie berühren uns, packen uns, erschüttern uns, schütteln uns durch und schicken uns in Joys und Jacks Hölle. Was sich durchleiden und wie sie das überleben, macht uns staunen. Macht uns traurig. Macht uns wütend. Und dann macht es uns Mut.