«Sie kontrollieren alles. Alles»

Der Oscar-Mitfavorit «Spotlight» berichtet gleichsam chirurgisch präzis und sachlich, wie der «Boston Globe» gegen alle Widerstände den endemischen Kindsmissbrauch in der katholischen Kirche aufdeckte.

 

von Sandro Danilo Spadini

«Es ist, als ob alle die Geschichte schon kennen», sagt Reporterin Sacha Pfeiffer (Rachel McAdams) gegen Ende von Tom McCarthys «Spotlight» entnervt. Und recht eigentlich liegt sie damit nicht falsch. Immerhin geahnt hatten sie es nämlich alle: dass im Erzbistum Boston Kinder sexuell missbraucht werden; dass es nicht einfach nur ein paar schwarze Schafe, «ein paar faule Äpfel» waren, die unter dem Deckmantel der Nächstenliebe das Schlimmste getan haben und noch immer tun; sondern dass das endemisch, dass es systemisch war. Doch sie haben es vorgezogen, wegzuschauen. Die Polizei, die Gerichte, die Anwälte, die Schulen, die Eltern, die ganze verdammte Stadt und, ja, auch die Presse. Sie haben sich dazu entschieden, nichts zu tun. Anders die katholische Kirche. Die hat sehr wohl hingeschaut; sie hat auch gehandelt, hat reagiert, hat vertuscht, die Fehlbaren identifiziert und versetzt, auf dass sie woanders das tun, was doch nicht sein kann, was nicht sein darf. Aber das wollte man dann nicht so genau wissen. Es ist das schliesslich Boston. Quasi eine Kleinstadt, wie der Kardinal (Len Cariou) einmal meint. Hier hält man zusammen. Und die katholische Kirche hält mit den Red Sox die Gemeinde zusammen. Mithin musste da schon einer dieser Outsider kommen, ein Jude notabene und ein Baseballverweigerer obendrein, um diesen Bostoner Filz einmal zu durchdringen. Marty Baron (Liev Schreiber) fängt damit im Jahr 2001 schon an seinem ersten Tag als Chefredaktor des «Boston Globe» an. Frisch eingeflogen aus Miami, veranlasst er nach Lektüre eines kurzen Berichts zu einem Pädophiliefall nicht nur eine Klage gegen die katholische Kirche auf Herausgabe heikler Dokumente; er hetzt ihr zum regelrechten Schock der alteingesessenen Hausmacht auch noch die Spürhunde auf den Hals: die zeitungseigene vierköpfige Rechercheabteilung Spotlight (verkörpert von den Oscar-nominierten McAdams und Mark Ruffalo sowie Brian d’Arcy James und Michael Keaton). 53 Prozent der Leserschaft sei katholisch, gibt ihm sein Stellvertreter (John Slattery im «Mad Men»-Modus) zu bedenken. «Ich glaube, sie werden das interessant finden», meint Baron dazu nur.

Makelloses Filmemachen

Was Tom McCarthy, der Regisseur von menschlich so herausragenden Filmen wie «The Visitor», hier macht, ist Filmemachen alter Schule. In der Tradition von Genreklassikern wie «All the President’s Men» und «Zodiac» zeigt er minutiös die journalistischen Prozesse von gestern auf: als man noch nicht die meiste Zeit hinter Bildschirmen sass, sondern in Archive runterstieg und Bibliotheken durchkämmte. Auch in seiner makellosen Oscar-nominierten Inszenierung geht er mit der Präzision und der Sachlichkeit eines Chirurgen vor; erst zum Schluss, wenn das ganze Ausmass der Abgründe sich auftut und es einfach zu viel wird, lässt er eine leise Melancholie und genau zwei Gefühlsausbrüche zu – weil das einfach «ein beschissenes Gefühl» ist. Ansonsten aber wird hier nicht gebrüllt oder geheult, nicht skandalisiert und sensationalisiert, der Ton ist, selbst wenn die Opfer zu Wort kommen, nicht wirklich anklagend; McCarthy vertraut wie ein guter Berichterstatter stattdessen fast stoisch auf die Kraft der Fakten, und die sprechen für sich: Sie sprechen Dinge aus, die mittlerweile zwar tragische Berühmtheit und himmeltraurige Gewissheit erlangt haben – im Kino etwa schon vor zehn Jahren mit Amy Bergs gespenstisch erschütternder Doku «Deliver Us from Evil». Diese Dinge zu wiederholen, sie nochmals auszusprechen, sie sich bei allem Schmerz und aller Abscheu ins noch immer ungläubige Bewusstsein zurückzuholen, ist dennoch richtig und wichtig. Das haben die Opfer verdient. Und das haben die Täter verdient.

Die Vierte Gewalt

Im Fall von Boston gibt es indes noch einen weiteren Grund. Denn «Spotlight» ist nicht zuletzt eine leider nötig gewordene Erinnerungen daran, was investigativer Journalismus gerade auch auf lokaler Ebene vermag – ein Plädoyer für die Erhaltung seines Werts, seiner Kraft, seiner Macht. «Sie kontrollieren alles. Alles», sagt Stanley Tucci als Anwalt der Opfer einmal über die Kirche. Zum Glück hat es damals jemanden gegeben, der schliesslich dann auch sie kontrolliert hat. Für seine «mutige und umfassende Berichterstattung» in über 600 Storys zum Pädophilieskandal hat der «Boston Globe» 2003 den Pulitzerpreis erhalten. Die Macher von «Spotlight» könnten nun den Oscar gewinnen. Es wäre ebenfalls verdient.