Die Fremde aus dem Zug

Die Bestsellerverfilmung «The Girl on the Train» kommt ohne Hollywood-Glasur aus und hält sich sklavisch an die Vorlage. Das ist löblich, auch wenn es öfters ruckelt auf dieser mehrgleisigen Krimifahrt.

 

von Sandro Danilo Spadini

So viel origineller als Hollywood ist die Buchindustrie eigentlich auch nicht – zumal was die Verpackung ihrer Produkte angeht. Wie denkfaul durchsichtig ihre Marketingstrategien zuweilen sind, zeigte sich etwa damals beim Grisham-Boom, als man in der entsprechenden Ecke auf einmal nur mehr Titel fand, die aus einem bestimmten Artikel plus einem (zweisilbigen) Substantiv bestanden. Nach Stieg Larsson durfte es dann gern ein blankes Substantiv mit den Suffixen -ung oder -nis sein, derweil man im Dan-Brown-Fieber exzessiv mit Mystischem auf den Buchdeckeln polterte. Und seit Gillian Flynn mit «Gone Girl» eine Krimisensation geschaffen hat, ist das Wort «Girl» in Büchergeschäften so präsent wie früher am Kiosk in der obersten Reihe. Drei Merkmale nur braucht es für letzteren Stempel: eine weibliche Autorenschaft; ein oder besser mehrere unzuverlässige Erzähler; ein überraschendes Ende. Bei «The Girl on the Train» darf man da dreimal ein dickes Häkchen machen, und damit hat sich der Megabestseller von Paula Hawinks nicht nur das «Girl», sondern auch – und damit schalten wir zurück nach Hollywood – seine Verfilmung verdient.

Blunt so gut wie nie

Die Messlatte freilich ist hier allzu hoch angesichts der Spitzenklasse Gillian Flynns und der Weltklasse von «Gone Girl»-Verfilmer David Fincher. Aber immerhin: So wie Hawkins ein sicherlich tolles Buch geschrieben hat, so hat Regisseur Tate Taylor nun einen gewiss guten Film gedreht. Dass es ihm nicht zu mehr gereicht hat, liegt auch daran, dass er sich sklavisch ans Original hält. Das ist wohl nobel, geht bei einer Vorlage mit solch komplexer Erzählstruktur aber nun mal schnell zulasten der Kinotauglichkeit; und so ruckelt es auf dieser mehrgleisigen Fahrt in die Abgründe der Suburbia bisweilen denn auch zünftig. Perfide ist es da nachgerade, dass die einzig klare Abweichung zum Buch den grössten Trumpf erzeugt: das Geschehen von London nach New York zu verlagern, dabei aber an einer britischen Hauptfigur festzuhalten. Das nämlich macht diese nicht nur noch mehr zur Aussenseiterin; es erlaubt auch die Besetzung der traurigen Rachel mit der fulminant aufspielenden Londonerin Emily Blunt. Die ist zwar fraglos zu hübsch und zu schlank für die Rolle; aber was Rachel so unattraktiv macht, ist letztlich ihr Selbsthass, den sie mit Gin-Tonic zu ersäufen sucht. Und diesen toxischen Mix aus nagender Frustration und verzagter Umnachtung erfasst Blunt virtuos, wenn sie im Pendlerzug an die Grand Central Station mit wässrigen Augen aus dem Fenster stiert. Absent ist Rachel dabei indes nicht. Sie kriegt die erniedrigenden Blicke sehr wohl mit und vor allem auch, was in dem schmucken Haus an den Gleisen in ihrer früheren Nachbarschaft los ist. Ihr eigenes verflossenes Glück mit Ex-Mann Tom (Justin Theroux) im Brummschädel, wähnt sie dort ein Traumpaar daheim und fantasiert in den trüben Tag hinein – bis sie die scheinbar perfekte Megan (Haley Bennett) beim Busseln mit einem Kerl erblickt, der nicht ihr Scott (Luke Evans) ist. Als Megan kurz darauf verschwindet, nimmt Rachel wie einst Jeff in «Rear Window» die Spur auf. Und ebenso wie dieser an den Rollstuhl gefesselte berühmteste aller Voyeure hat sie ein Handicap: ihre Alkoholblackouts, die erst die Polizei, dann sie selbst und endlich auch uns an ihrer Zuverlässigkeit zweifeln lässt.

Drei Frauen, drei Blickwinkel

Als ob das nicht verzwickt genug wäre, wird Rachels Sicht bisweilen ganz ausgeblendet. Ersetzt wird sie durch jene Megans, einer «Meisterin der Selbsterfindung», die raus aus dieser «Scheiss-Babyfabrik» von Vorstadt will. Oder jener von Anna (Rebecca Ferguson), der neuen «Miss Perfect» von Tom, der Rachel öfters auf die Pelle rückt, weil sie ihr das Kind neidet, das ihr verwehrt blieb. Und als ob das nun immer noch nicht verworren genug wäre, hopst der Plot auch noch auf der Zeitachse herum. Unter alldem leidet am Ende dann die Spannung; doch die ist ohnehin nicht alleinige Priorität dieser in britische Blässe getunkten und in New-York-frostige Wintermelancholie getauchten Adaption. Geradeso gern wühlt Regisseur Taylor wie in «The Help» wieder in der weiblichen Psyche, so wie das seine Drehbuchautorin Erin Cressida Wilson in «Secretary» oder «Chloe» getan hat. Was sie dabei finden, ist mehr als Rachels Verwirrung. Vielmehr legen sie beim Scharren an der züchtigen Oberfläche offen, wie weit Menschen gehen, um ihr Glück zu verteidigen, was sie sich dafür alles gefallen lassen und anderen antun. Und das ist dann wieder mörderisch spannend.