Die Kunst, lächelnd ins Nichts zu blicken

Die Tragikomödie «Lucky» zeigt den verstorbenen Kultschauspieler Harry Dean Stanton in seiner letzten Rolle. Ein kleiner Film über nichts. Ein grosser Film über alles.


von Sandro Danilo Spadini


Zuerst ist da die Schildkröte. Stoisch schleicht sie durch die Kaktuslandschaft. Und wir ahnen: Das könnte jetzt langsam werden. Und stachelig. Ob es für diese Erkenntnis die Schildkröte wirklich gebraucht hätte, ist freilich fraglich. Ein Blick auf den Star von «Lucky», dem Regiedebüt des Schauspielers John Carroll Lynch, würde ja eigentlich genügen: Harry Dean Stanton, im September vorigen Jahres 91-jährig verstorbener Charakterdarsteller, war nie der Typ für Rasantes und Geschniegeltes. Lieber hat sich dieser kettenrauchende Vierschröter irgendwo an den Rändern getummelt. Weit draussen. Unter der Sonne. Alleine. Niemand, der nervt. Nichts, was stört. Hauptsache, das Feuerzeug funktioniert. Im Wüstenkaff von «Lucky» ist er also goldrichtig. Die beste Zeit hat dieser Flecken unten im Südwesten lange hinter sich; was Sonne und Zeit nicht ausgemergelt haben, hat die Rezession besorgt. Was es da gibt, sind träge Viecher und schräge Vögel: treue Seelen mit Herzen aus Gold und Mundwerken, die mal gründlich ausgewaschen gehören. Ansonsten: nicht allzu viel los hier; je ein Diner, eine Bar, ein Krämerladen. Hier trifft man sich und mag man sich, auch wenn der bisweilen ruppig spöttische Ton anderes vermuten liesse; hier schwadroniert man und erzählt sich die ewig gleichen Anekdoten und Räuberpistolen; aber das Wichtigste: Hier sorgt man sich umeinander, kümmert sich, hört man einander zu. Insofern: doch recht viel los hier – eine Menge Herzlichkeit und Menschlichkeit nämlich.

Ein harter Hundesohn

Das kann unser einzelgängerischer Held, den alle nur Lucky rufen, jetzt auch brauchen, dieses Mitfühlen. Eben noch haben wir ihm bei den Alltagsritualen zugeschaut. Er wäscht sich, putzt sich die Zähne, kämmt sich, macht seine Yogaübungen, trinkt sein Glas Milch, zieht sich an, setzt sich den Hut auf und ist – nachdem er zwischendurch ein paar Kippen geschlotet hat – parat für den Tag: Spaziergang zum Diner, ein fauler Spruch zu Joe (Barry Shabaka Henley), ein Kaffee mit viel Milch und Zucker, Kreuzworträtsel, noch zwei, drei faule Sprüche. Dann weiter in den Laden zu Bibi (Bertila Damas), ein kurzer Schwatz und gleich heim zu seinen Gameshows. Am Abend schliesslich: auf eine Bloody Mary zu Elaine (Beth Grant), wo auch Howard (David Lynch!) aufkreuzt, dessen Schildkröte soeben getürmt ist. Und das wärs. So macht Lucky das. Aber eines Morgens dann klappt er zusammen. Der Arzt (Ed Begley Jr.) meint zwar: nichts passiert. Und sowieso: Wahnsinn, wie fit er noch sei – in seinem Alter und bei dieser Raucherei; vermutlich sei er halt «lucky» und «ein harter Hundesohn». Aber Lucky setzt dieser Sturz zu. Nicht körperlich. Aber mental. Denn nun wird er sich seines Alters bewusst, des nahenden Endes. Und es scheint, als ob da sein Leben an ihm vorbeiziehe und als ob ihm diese Revue aus Fehler und Fehlurteilen sage: Sieh her, du alter Taugenichts, das wars, dieses wenige, und bald ists vorbei.

Es ist, wie es ist

Das ist natürlich harte Kost, an der Lucky hier zu knabbern hat. Und wenn dieser langsame und stachelige Film jetzt auch noch bleischwer würde – man weiss nicht recht, ob man sich das noch anschauen wollen würde. Doch keine Sorge: John Carroll Lynchs spätes Regiedebüt, das mit seinem lakonisch lebensklugen Palaver und dem geschmeidigen Fluss ins Nirgendwo und Überall an David Lynchs «The Straight Story» erinnert, bleibt sich und Lucky treu. Das heisst: noch mehr faule Sprüche, diesmal eben philosophisch unterfüttert und mit Wut oder Angst abgesondert. Wobei jetzt nicht die grossen Beichten und Lebenslügen rauskommen; keine markerschütternden und welterbebenden Weisheiten gen Himmel gejodelt werden. Trotzdem hat man am Ende das Gefühl, man sei nun etwas klüger, verstehe dieses Leben ein wenig besser. Und gerührt ist man ob des Bemühens dieses knorrigen alten Atheisten, das alles zu verstehen, zu akzeptieren und zu bewältigen: die Vergänglichkeit, das drohende Nichts und die Gelassenheit angesichts all dessen. Am meisten ans Herz geht freilich jener Abschied, den wir nehmen müssen: von Harry Dean Stanton, dieser ikonischen Randfigur, der meist ein paar Minuten reichten, um einen Film besser zu machen. In «Lucky» findet er nun nicht nur die würdige, extra für ihn geschriebene Alters(haupt)rolle, sondern gleichsam die Krönung seiner Karriere. Alles schaut auf ihn. Alle hören ihm zu. Wenn er flucht. Wenn er spottet. Wenn er murmelt. Und wenn er dann auch noch singt, auf Spanisch. Und ganz am Schluss, da lächelt er uns zum Abschied direkt zu. Und wir denken: Was für ein Kerl!