von Sandro Danilo Spadini
Wenn um die Filmmitte herum unserer Heldin ein Packen altmodischer Computerdisketten übergeben wird, stutzt man und fragt sich: Moment, spielt dieser Film eigentlich wirklich in der Gegenwart?
Und, als ultimative Probe für die zeitliche Verortung eines Films: Sind Handys vorgekommen? Ja, in Francis Lawrence’ Agententhriller
«Red Sparrow» wird mobil telefoniert, und er spielt
tatsächlich im Heute. Aber dass man das kurz infrage stellt, das ist schon interessant. Und es ist grundsätzlich ein gutes Zeichen, wenn so was passiert. Denn es unterstellt einem Film ja eine
gewisse Zeitlosigkeit. Nun, ganz so weit her ist es damit hier dann doch nicht; es ist schliesslich eine recht spezifische Zeit, in der «Red Sparrow» auch spielen könnte. Weil das aber die
Siebzigerjahre sind und mithin die von grau-bleierner Paranoia beherrschte Blütezeit dieses Genres, ist das schon etwas, was Regisseur Lawrence Freude machen sollte. Auch wenn man hier am Ende
nicht so sehr über ihn reden wird. «Red Sparrow» nämlich, das ist diskussionslos der Film von Namensvetterin Jennifer Lawrence.
Den Spatz in der Hand
Die Adaption des Debütromans von Ex-CIA-Agent Jason Matthews ist nach drei «Hunger Games»-Blockbustern das vierte Lawrence-Doppel. Und man möchte schwören, man merke das dem Film an: dieses
Eingespielt-Sein, wie man es etwa von Scorsese und DiCaprio kennt. Auch hier wieder gilt: hoch gegriffen, gewiss. Aber wie der Regisseur seiner Heldin immer wieder in Close-ups schmeichelt und
sie in langen Monologen brillieren lässt: Das zeugt von Urvertrauen und fast verliebter Hochachtung. Und wie ihn die 27-jährige Oscar-Preisträgerin darin bestätigt: Das ist abermals famos. Dabei
hätte das durchaus schiefgehen können. Als russische Ballerina Dominika Egorova muss sich Lawrence schliesslich 139 Minuten lang eines fremdländischen Akzents bedienen, und solcherlei steigert
die Glaubwürdigkeit einer Figur nur ganz selten und bei osteuropäisch radebrechenden Amerikanern so gut wie nie. Glaubwürdig sollte diese Dominika indes schon sein, zumal hier recht genrefremd
und anders als bei den ihren männlichen Kollegen nacheifernden Actionheldinnen von «Salt» oder «Atomic Blonde» psychische Grenzerfahrung mehr zählen als physische Galanummern. Das zeigt sich in
den besten Szenen schon früh in einer für diese Art von Produktion selten beklemmenden Intensität: Nachdem Dominikas Karriere am Bolschoi-Theater durch Intrige unsanft beendet worden ist und sie
sich dafür brutal gerächt hat, gerät sie in die Fänge ihres Onkels (Matthias Schoenaerts im Putin-Modus) vom Geheimdienst SWR. Der hat sie, nach einer erneuten Intrige und wegen ihrer
pflegebedürftigen Mama, bald in der Hand und verfrachtet sie auf die «Staatsschule 4» oder «Hurenschule», wie Dominika sie nennt: ein von Chruschtschow eingeführtes Ausbildungslager, wo junge
Frauen und Männer zwar nicht zu Killermaschinen gedrillt, aber gleichwohl entwürdigt und entmenschlicht und zu skrupellosen Manipulatoren ausgebildet werden, sogenannten Sparrows (Spatzen). «Dein
Körper gehört dem Staat», macht die eisige Oberin (Charlotte Rampling) denn auch gleich mal klar. Und: «Wenn du nicht mehr von Nutzen bist, jage ich dir eine Kugel in den Kopf.» So geht es hier
zu. Was das für Dominika bedeutet, das ist blanker seelischer Terror und bisweilen kaum zu ertragen. Es ist aber auch ein prima Tummelfeld für eine derart versierte Schauspielerin wie Lawrence –
und wie Dominika meistert sie die Tour de Force mit Bravour.
Macht und Loyalität
Ihr erster Auftrag führt Dominika nach Budapest, wo sie CIA-Agent Nash (top: Joel Edgerton) die Identität eines russischen Maulwurfs entlocken soll. Nun beginnt ein irres Wechselspiel um Macht,
Loyalität und etwas Liebe, das zwar weder atemlose Spannung noch rasende Action bietet, dank psychologischer Tiefe aber sehr wohl fesselt. Die «Hunger Games»-gestählte Lawrence, die sich am
Krankenbett im Plattenbau ebenso gut einfügt wie im Grandhotel beim Champagner, muss dabei auch körperlich wieder einiges ertragen von all den russischen Unholden, Trunkenbolden und Unmenschen;
mitunter nimmt die (Folter-)Gewalt auch bizarre Formen an und driftet ins Grausliche. Aber Francis Lawrence hat sich schon als Debütant bei der Comicverfilmung «Constantine» nicht dem
Massengeschmack angedient. Möglich, dass das damals eine eigene Serie verhinderte. Und möglich, dass ihm hier trotz Plot-technisch optimaler Ausgangslage dasselbe droht. Aber umso mehr darf man
ihn für seinen Schneid beklatschen – bevor wieder alle Herzen Jennifer Lawrence zufliegen.