Von Sandro Danilo Spadini
Schon die Einblendung, die Lulu Wang ihrem zweiten Spielfilm vorausschickt, hat Charme: «beruhend auf einer tatsächlichen Lüge». Und vielem, was in ihrem semiautobiografischen
Familiendrama
«The Farewell» folgen wird,
wohnt ebendiese sympathische Schlitzohrigkeit inne. Dabei ist das, was hier erzählt wird, eigentlich so gar nicht zum Lachen, ist es nichts weniger als herzzerreissend, wenn die 30-jährige
Autorin Billi (Awkwafina) daheim in Bushwick, Brooklyn, erfährt, dass ihre Grossmutter im fernen nordchinesischen Changchun, ihre geliebte «Nai Nai» (Shuzhen Zhao), die niederschmetternde
Diagnose erhalten hat: Lungenkrebs, Stadium 4, noch drei Monate zu leben. Wobei: Erhalten hat Nai Nai dieses Todesurteil ja gerade nicht; respektive: Ihr gesagt hat das niemand, weder der Arzt
noch ihre Schwester, und schon gar nicht gedenken ihre beiden Söhne – der eine längst in Japan, der andere (Tzi Ma) mit Frau (Diana Lin) und eben Billi vor 25 Jahren in die USA emigriert –, es
ihr zu sagen. Stattdessen wird flugs eine Hochzeit in China anberaumt: als Vorwand, damit sich alle gebührend von der einstweilen noch so energiegeladenen, meinungsstarken und wortgewaltigen Nai
Nai verabschieden können, Adieu sagen können, «Farewell». Und daher rührt er nun, aus dieser grotesken Situation samt kulturbedingten Verständigungsproblemen speist er sich, dieser bittersüsse
Charme, der Wangs Regie- und Drehbuchzweitling gar zu zwei Golden-Globe-Nominierungen hat segeln lassen: eine für den besten fremdsprachigen Film und eine für Frontfrau Awkwafina, eine
sinoamerikanische Internetberühmtheit, die im Vorjahr in «Ocean’s Eight» so manchem gut aufgelegtem Star die Show stibitzt hat.
Eine grosse Wärme
Es sind grosse und unverkennbar persönliche Fragen, denen Wang ihr Alter Ego Billi aussetzt, wenn sich «The Farewell» nach nur einer Viertelstunde Richtung Nordchina verabschiedet: ob eine Lüge
tatsächlich besser sein kann als die Wahrheit, so wie das ihre noch ungleich stärker mit der alten Heimat verwurzelte Familie sieht, die in Einklang mit der fernöstlichen Tradition meint, es sei
an ihnen, diese emotionale Bürde für die Oma zu tragen – was die verwestlichte Billi gerade so gar nicht einsehen mag. Ebenso schwer wie solch ethisches Geschütz und die damit einhergehenden
komplexen Familiendynamiken wiegen freilich die Fragen der Identität, die sich der Migrantin Billi stellen, wenn sie das erste Mal, seit sie sechsjährig war, in ein Land zurückkehrt, wo ihr das
Fremde irgendwie vertraut und das Vertraute irgendwie ist. Der Blick, den Billi als Anker im Zentrum des öfters skurrilen Geschehens mit uns teilt, ist denn auch der von jemandem, der das alles
zwar ein bisschen versteht, der sich aber mit uns auch immer wieder wundert. Das bietet die Basis nicht nur für spassige «Culture Clash»-Momente, die auch mal die eine oder andere unschuldige
Albernheit zulassen; sondern auch für eine gewisse Horizonterweiterung. Und weil das alles überlagernde Familienthema dann doch universeller Natur ist und weil den Film von aller Anfang an eine
allumfassende Wärme durchströmt, lässt man sich noch so gerne auf dieses Abenteuer ein. Umso mehr, als es Wang einem sehr einfach macht, ihren Film zu mögen: Sie hat einen «Crowd-Pleaser»
gedreht, dem sein Bemühen, dem Publikum zu gefallen, kaum je anzumerken ist; der seine Figuren zwar gewitzt und ausgiebig parlieren lässt, ihnen aber keine neunmalklugen Monologe aufhalst; der
zwar durchaus tief schürft, dabei aber nie grüblerisch wirkt; der am Familientisch zwar über die Unterschiede zwischen Ost und West diskutieren lässt, die simplen Erkenntnisse dann aber
weglächelt und einen Positionsbezug verweigert; der zwar gerne mit hübschen Bildkompositionen aufwartet, aber nie stilverliebt ist; und der zwar ins Bittersüsse eintaucht, Sentimentalitäten aber
weiträumig umschifft.
Und dann: Nichts
Das alles ist ganz geschmeidig, passt ganz wunderbar – etwa eine Stunde lang. Und dann, ja dann passiert... nichts mehr. Oder halt: mehr vom selben. Die nächste beklemmende Situation mit Nai Nai.
Ein weiterer Augenblick der Verzweiflung bei Billi. Abermals eine Familiendiskussion. Erneut eine Ost-West-Debatte. Schon wieder ein sorgfältig arrangiertes Tableau. Noch ein skurriler
folkloristisch angehauchter Moment. Und bei alledem einfach keine Entwicklung – weder bei der Heldin, die am Ende auch keine weiteren Konturen bekommen hat, noch in den existenziell grossen
Fragen, die uns da schon früh aufgetischt worden sind. Dieses Sowohl-als-auch, das man Wang eben noch als differenziert ausgelegt hat, kommt nun konfliktscheu-unentschlossen daher; die
anekdotische Struktur, die zuvor für einige Heiterkeit gesorgt hat, wirkt nun doch ein wenig beliebig; und dieses Zurückhaltende, gleichsam Beschützende, aus dem man loyale Sanftmut gegenüber
ihren Figuren herausgelesen hat, vermittelt nun den Eindruck, als habe hier jemand Angst, die Handbremse zu lösen und Gefühle zu zeigen. Vor allem aber hat Wang der Grundprämisse ihres Plots kaum
mehr etwas hinzuzufügen. Und dieses Fixierte und Limitierte, mithin Monothematische, es wird mit der Zeit etwas, nun ja, monoton. Die Geschichte hat Wang vor einigen Jahren bereits in einer
einstündigen Radioshow aufbereitet; womöglich war dies das geeignetere Format. Denn sie trägt den Film nur mit Ach und Krach bis zur Ziellinie, die notabene bereits bei bündigen rund anderthalb
Stunden liegt. Und so fühlt sich «The Farewell» im letzten Drittel nicht mehr frisch und fein an, sondern nur mehr: gestreckt.