Mit gefrorenen Adern im Schnee von gestern

Im elegischen dreieinhalbstündigen Mafia-Epos «The Irishman» bleibt Martin Scorsese ganz entspannt: kein Machogehabe, keine Showeinlagen. Stattdessen ruht er in sich und vertraut auf seine Story und seine Stars.

Netflix

Von Sandro Danilo Spadini

Martin Scorsese ist 77; Robert De Niro ist 76; Al Pacino ist 79. Und alle sind sie noch immer Götter. Ja, Götter. Leinwandgötter. Oder wie man nun, nach «The Irishman», sagen darf: auch Mattscheibengötter. Denn «The Irishman», dieses dreieinhalbstündige Mafia-Epos, erstrahlt nicht etwa in den Lichtspielhäusern dieser Welt in seiner ganzen und gewiss nicht geringen Pracht, sondern am Flimmerkasten. Und dass ein solcher Film, der quasi die Quintessenz des Kinos und seiner Geschichte verkörpert, eben gerade nicht im Kino laufen darf, sondern von Netflix produziert wurde und dort ausgestrahlt wird: Das sagt doch einiges und nichts Gutes aus über den Zustand Hollywoods. Doch genug gejammert. Schliesslich ist das Erscheinen von «The Irishman» eine rundum erfreuliche Sache. Und eine, auf die man sich eine gefühlte Ewigkeit gefreut hat. Geschlagene fünf Jahre sollten nach der offiziellen Verkündung dieses Projekts bis zur Ausstrahlung noch vergehen – und von den Jahren, die es davor schon im Produktionslimbo geschmort hatte, wollen wir erst gar nicht klagen. Aber jetzt, wirklich, genug gehadert. Jetzt ist «The Irishman» ja da, im TV zwar, aber egal. «The Irishman» ist tatsächlich da – und natürlich ist das ein monumentales Meisterwerk.

Die Sache mit Hoffa

Nach den Giganten Tarantino, DiCaprio, Pitt finden sich hier nun also die Titanen Scorsese, De Niro, Pacino ein, um ein Stück Filmgeschichte zu schreiben und uns daran zu erinnern, zu welch gewaltigen Glanztaten dieses Medium noch immer fähig ist, wenn man die richtigen Leute einfach mal wieder ihr Ding durchziehen lässt. «The Irishman» beruht auf dem True-Crime-Report «I Heard You Paint Houses» aus dem Jahr 2004, einem fast 400 Seiten dicken Buch des einstigen Ermittlers und Strafverteidigers Charles Brandt, das in seinem Untertitel stolz und keck verkündet, die Antworten auf den vielleicht sagenumwobensten und verschwörungstheorienumranktesten Mordfall der amerikanischen Geschichte neben dem Kennedy-Attentat zu haben: «Frank ‹The Irishman› Sheeran and Closing the Case on Jimmy Hoffa». Nun ist es freilich so, dass die heutige Generation, wie der fiktive Frank Sheeran (De Niro) richtig sagt, doch gar nicht mehr weiss, wer dieser Jimmy Hoffa denn überhaupt war, dessen Fall hier endlich abgeschlossen werden soll. Nun, der Gewerkschaftsführer James Riddle Hoffa «war in den Fünfzigern so gross wie Elvis, in den Sechzigern so gross wie die Beatles – der zweitmächtigste Mann im Land nach dem Präsidenten». Und am 30. Juli 1975 verschwand dieser Mann – spurlos und auf Nimmerwiedersehen. Dass Frank Sheeran etwas damit zu tun gehabt hat, lässt sich zwar schon in den ersten Minuten von «The Irishman» erahnen. Doch bis wir bei diesem Julitag Mitte der Siebziger anlangen, dauert es noch ein wenig: rund drei Stunden magistrales Kino (oder eben Fernsehen), um halbwegs genau zu sein. Denn einstweilen möchte Frank, der mittlerweile im Altersheim im Rollstuhl sitzt, einem imaginären Interviewer seelenruhig seine Geschichte erzählen; und wie das gerade Männer in einem gewissen Alter halt so tun, holt er dabei ein bisschen aus, plaudert jovial aus dem Nähkästchen, kommt vom Hundertsten ins Tausendste und gibt so nicht nur einen erhellenden historischen Abriss über das Wirken des organisierten Verbrechens in den USA und dessen Auswirkungen auf das Leben des Durchschnittsbürgers, sondern deckt dabei en passant auch noch gut zwei Jahrzehnte amerikanischer Geschichte ab: wie Big Business und die Regierung die Gewerkschaften zerschlugen; JFK und die Mafia; die Kennedy-Ermordung und Kuba; Watergate. Scorsese lässt ihn gewähren, denn er weiss, er hat Zeit. Und er hat Vertrauen in den Stoff; Vertrauen in die Stars, die er leuchten lässt, wie sie seit Jahren nicht mehr leuchten durften, wobei wie damals in Michael Manns «Heat» De Niro die Coolness hat und Pacino das Temperament; und vor allem hat er Vertrauen in sich selbst.

Frank gibt den Takt an

«The Irishman» gerät so – nebst seinen esoterischen Werken wie zuletzt «Silence» – zu Scorseses vielleicht ruhigstem und klügstem Film, zu einem Alterswerk eines Regisseurs, der in sich ruht, wenn er die Geschichte eines Mannes am Ende eines ereignisreichen Lebens aufrollt: eines Iren inmitten von Italienern, der für Mafiaboss Russell Bufallino (Joe Pesci) in New York über Jahrzehnte «Gefallen und Besorgungen» erledigt hat, sprich Sachen wie Morde, Bestechungen und Brandstiftungen, und der als Gewerkschafter auch eng mit Jimmy Hoffa (Pacino) in Chicago verbandelt war. Wie in «The Wolf of Wall Street» bewegt sich der Film dabei ganz im Takt seiner Hauptfigur; und weil dieser kein zugekokster Achtzigerjahre-Banker ist, läuft der Film eben umso gemächlicher ab, je länger er dauert und je nachdenklicher und altersweiser dieser Mann wird, der im Grunde seines Wesens ein ziemlich gewöhnlicher Typ war und so ganz anders als die Zigarren rauchenden Männer mit den pomadigen Haaren in ihren karierten Sportsakkos, deren Machtkämpfe er stets von der Seitenlinie aus beobachtet und gelegentlich als Schiedsrichter geschlichtet hat. Vom spektakulären Mafia-Brimborium der Genre-Meilensteine «GoodFellas» und «Casino» ist hier nicht viel geblieben. Die Gewalt ist kleinkalibrig, die üppigen Dialoge sind nüchtern – Machogehabe und Showeinlagen hat Scorsese nicht mehr nötig. Vielmehr scheint es bisweilen, als wolle er hier auch ein wenig Abbitte leisten für die früheren Exzesse, die ihm immer wieder mal als Romantisierung des organisierten Verbrechens ausgelegt worden sind. «The Irishman» ist jedenfalls das bare Gegenteil davon. Hier zeigt Scorsese, wie die Mafia den kleinen Mann und die einfache Frau verraten hat, so wie Frank seine stille Tochter Peggy (Anna Paquin) letztlich verrät, die den Mafioso Bufallino verachtet und den Klassenkämpfer Hoffa vergöttert. Man könnte, wenn man möchte, das durchaus auch als Parabel lesen.

Ein würdiger Abschluss

Von «Mean Streets» über «GoodFellas», «Casino» und «The Departed» bis zu «The Irishman» kommt die gigantische Mafia-Erzählung des Martin Scorsese, dieses quintessenziellen amerikanischen Filmemachers, nun zu einem mehr als würdigen Abschluss: mit grossem Erzählkino, grossem Schauspielerkino, grossem Regiekino – elegant und epochal, episch und elegisch. Und am Ende dieser in ihrem tiefsten Inneren traurigen Ballade fragt der Interviewer, der sich als Priester herausstellt, dann doch noch: «Aber Sie fühlen gar nichts?» Worauf Frank mit einer Lakonie, die einen frösteln und das Blut in den Adern gefrieren lässt, meint: «Schnee von gestern.» Ob er denn keine Reue empfinde, etwa für die Familien, insistiert der Gottesmann. Doch Frank bleibt auch jetzt cool. Und wir meinen zu verstehen: Das ist keine Beichte, es ist nur ein Bericht. Denn es ist, wie es ist.