Von Sandro Danilo Spadini
Manisch? Depressiv? Paranoid? Agoraphobisch? Pillensüchtig? Elgie (Billy Crudup) weiss auch nicht, was «technisch» nicht stimmt mit seiner Frau. «Aber ignorieren ist keine Option
mehr.» Das sieht Bernadette (Cate Blanchett) ein bisschen anders. Sie sieht überhaupt vieles anders. Ganz anders sogar. Als Elgie. Und als alle anderen. Wenn es nach ihr geht, sind alle um sie
herum Schwachköpfe. Denn Bernadette, diese enigmatische Architektur-Ikone, die ewig nichts mehr kreiert hat, ist eine Zynikerin vor dem Herrn. Ein Lästermaul reinsten Wassers und eine
unverbesserliche Besserwisserin, deren kreative Energie längst verpufft und in unablässigem Lästern verglüht ist. Sie hasst ihre Nachbarin (Kristen Wiig), diese wehleidige Weltverbesserin, ob
deren ausgeprägtem Gemeinschaftssinn sie sich höchstens ein spöttisches Schnauben abringen kann. Sie hasst Seattle, diese von Nerds und Hipstern durchzogene, von Amazon und Microsoft dominierte
Metropole, in die sie vor 20 Jahren von der Ostküste gezogen ist. Sie hasst... nun ja, recht eigentlich hasst sie das Leben, dessen Banalität zumal, und die Menschen, die sich dessen nicht gewahr
sind. Deshalb ist sie am liebsten zu Hause. Und deshalb ist es eine recht hirnrissige Idee, als sie ihrer Tochter Bee (Emma Nelson) verspricht, einen Familientrip zur Antarktis zu
unternehmen.
Ungewohnte Rhythmusstörungen
Regisseur Richard Linklater ist ein ganz anderer Typ als Bernadette. Er liebt das Leben und die Menschen darin; das hat der Texaner in 30 Kinojahren zur Genüge demonstriert. In seiner neuen
Tragikomödie
«Where’d You Go, Bernadette» tut
er sich nun aber ungewohnt schwer. Nicht so sehr mit seiner Antiheldin, bei deren Interpretation Cate Blanchett eine Golden-Globe-nominierte Riesenshow abzieht. Sondern mit dem Erzählen ihrer
Geschichte. Schon deren Übersetzen in Filmform war tückisch, ist die gleichnamige Vorlage von Maria Semple doch in Brief- und E-Mail-Form gehalten. Dass Linklater daraus eine traditionelle
Erzählung gemacht hat, war nicht nach jedermanns Gusto. Ungleich schwerer wiegt freilich, dass der Film nie richtig in einen natürlichen Rhythmus findet, wenn er etwa Bernadettes gegenwärtige
Probleme mit dem Aufrollen ihrer Vergangenheit zu unterfüttern sucht oder die spezielle Beziehung zu Bee als Kontrast zu ihrer Lebensverweigerung einwebt. Schon in der schleppenden ersten halben
Stunde, wo Bernadettes Grantigkeit noch vornehmlich für Heiterkeit sorgt, wird klar: Das kann Linklater besser; auch das hat er oft gezeigt: prominent in der «Before»-Trilogie und gerade zuletzt
mit dem herzerwärmenden Drama «Last Flag Flying», der unbeschwerten Jock-Komödie «Everybody Wants Some!!» und natürlich dem Über-Meisterwerk «Boyhood». Sein neuer Film, definitiv kein
Meisterwerk, ist nun ebenfalls mal herzerwärmend und sodann unbeschwert. Und auch das hat man Linklater vorgehalten und es als Schlingerkurs interpretiert, dieses Schwanken zwischen Comedy und
Drama. Es ist aber auch möglich, das als durchaus geglückten Versuch zu sehen, das Leben und seine Launen in allen Facetten und Schattierungen abzubilden. Das ist ja Linklaters grosse Stärke, und
hier ist er denn auch voll in seinem Element: wenn er die grossen Fragen stellt, und zwar, wie es seine Art ist, ohne Pathos, fast beiläufig, mit texanischer Bodenständigkeit.
Fruchtbare Widersprüche
Es gibt also auch eine ganze Menge zu mögen in «Where’d You Go, Bernadette». Cate Blanchett natürlich und ihre grandiosen Monologe. Billy Crudup als lang- und grossmütigen Techie in
Funktionskleidung. Und diese hartnäckigen Widersprüche – dass man verlieren muss, um zu finden; fliehen muss, um heimzukommen – und den steten Widerstreit: zwischen Tragik und Komik; zwischen
Realitätscheck und Realitätsflucht; zwischen dem Erwachsenen und dem Kindlichen; zwischen dem Praktischen und dem Kreativen; und zwischen dem, was die Logik diktiert, wenn die Diagnose «extreme
Angstzustände, Grössenwahn, Suizidgefahr» lautet, und dem, was Herz und Bauch raten: Rausgehen! Erschaffen! Leben! Dass das dann nicht in prätentiöses Künstlergedöns mündet, versteht sich bei
einem Richard Linklater von selbst; und ebenso, dass nicht mal ein Hauch von Esoterik weht, wenn klar wird, dass die Frage im Filmtitel doppeldeutig ist: dass also nicht nur Elgie und Bee fragen,
wo zur Hölle Bernadette steckt, nachdem sie aus ihrer Realität abgehauen ist, sondern auch Bernadette selbst sich wundert, wo sie denn im Laufe der Jahre abgeblieben ist. Und am Ende, da haben
alle ein bisschen recht. Wie das im Leben halt so ist.