von Sandro Danilo Spadini
Dass jemand einzig aufgrund einer geradezu infam unglaubwürdigen Zeugenaussage zum Tode verurteilt wird, kann ja eigentlich nicht sein. Sicher nicht heute. Bestimmt nicht in unserer so
aufgeklärten westlichen Gesellschaft. Sowieso nicht in einem Rechtsstaat. Könnte man meinen. Sollte man meinen. Müsste man meinen. Doch gerade auch die Kinogeschichte hat uns immer wieder vor
Augen geführt, dass das sehr wohl im Bereich des Möglichen liegt. Und zwar immer dann, wenn zwei Parameter erfüllt sind: wenn dieser jemand eine Person dunkler Hautfarbe ist und wenn das Ganze im
tiefen Süden der USA verortet ist. «A Time to Kill» aus der Feder John Grishams war so ein Film. Und natürlich «To Kill a Mocking Bird» mit Gregory Peck in seiner Paraderolle der unsterblichen
Anwaltsikone Atticus Finch. Gerade mit diesem Klassiker nun hat das Justizdrama
«Just Mercy» eine Menge gemein. Nicht nur ist es in jener eigentlich friedlichen Kleinstadt im Bundesstaat Alabama angesiedelt, in dem
Harper Lee ihren fürs Kino adaptierten andächtig verehrten Bildungsroman verfasste. Er hat in dem Bürgerrechtsanwalt Bryan Stevenson (Michael B. Jordan) überdies eine Hauptfigur, die es in puncto
Edelmut sogar mit Finch aufnehmen kann. Und das will etwas heissen – wurde Pecks Figur vom American Film Institute doch zum grössten Helden der Kinogeschichte erkoren.
Zum Himmel stinkend
Finch den filmgeschichtlichen Rang ablaufen wird Stevenson vermutlich zwar nicht gerade – er hat ihm aber etwas nicht eben Unwesentliches voraus: Ihn gibt es wirklich, und der Fall, dessen er
sich in «Just Mercy» annimmt, hat sich denn auch tatsächlich so ereignet. Es ist das Jahr 1986, als in Monroeville eine 18-jährige Weisse ermordet wird. Monatelang tappt die Polizei im Dunkeln;
dann geht ihnen der Afroamerikaner Walter «Johnnie D.» McMillian (Jamie Foxx) in die Falle. In zweiter Instanz wird er 1987 zum Tode verurteilt. Der aus dem nördlichen Bundesstaat Delaware
stammende Stevenson schlägt zwei Jahre später seine Zelte in Alabama auf und gründet mit der lokalen Anwältin Eva Ansley (Brie Larson) die «Equal Justice Initiative». Er hat just in Harvard sein
Jurastudium abgeschlossen und einen Weg gesucht, Leuten zu helfen, die sich keinen adäquaten rechtlichen Beistand leisten können. Johnnie D. indes lehnt sein Angebot zunächst rundweg ab. Die
Hoffnung in ihm ist längst erstickt, sein Kampfesgeist erloschen. Er wisse doch gar nicht, worauf er sich einlasse hier unten im Süden, schnaubt er Stevenson an. «Die fressen dich lebendig auf
und spucken dich dann aus – wie jeden Schwarzen, der aus der Reihe tanzt.» Und: «Wenn du schwarz bist, bist du von Geburt weg schuldig.» Für Johnnie D. ist Stevenson bloss ein «Kid», das es gut
meint, aber keine Ahnung hat. Doch Stevenson gibt nicht auf und lässt sich auch nicht davon entmutigen, dass in Alabama hingerichtet wird, wer einmal zum Tode verurteilt wurde – noch nie hat eine
Berufung etwas daran geändert. Dieser Fall indes stinkt einfach zu bestialisch zum Himmel: Die ursprüngliche Verteidigung war dürftig, und die Beweislage ist dürr und beruht einzig auf der
grotesk widersprüchlichen Zeugenaussage eines verurteilten Verbrechers (Tim Blake Nelson). Stevenson ist sich sicher, dass er diesen Fall gewinnen kann, er spürt es, er fühlt es, er weiss es. Und
Johnnie D. glaubt ihm das irgendwann endlich auch.
Grossartig gespielt
Es sind wohlbekannte Pfade, auf denen Regisseur und Co-Drehbuchautor Destin Daniel Cretton wandelt in seinem dritten Film nach dem gefeierten Indie-Drama «Short Term 12» und dem ungleich weniger
bejubelten Biopic «The Glass Castle». Und bisweilen sind es doch auch recht ausgetrampelte Südstaaten-Wege, die er seinen Helden beschreiten lässt, wenn dieser über eher zu freigiebig bemessene
136 Minuten Spielzeit forsch und sicheren Fusses durch einen Sumpf aus Hass und Rassismus watet. Die anonyme Bombendrohung eines bigotten Irren? Check. Die grundlose nächtliche Verkehrskontrolle
durch sinnlos aggressive Westentaschen-John-Waynes? Check. Demütigende Machtspiele beim Gefangenenbesuch? Check. Rückschläge aus heiterem Himmel im Gerichtssaal? Check. Und das Personal, das
könnte zu einem guten Teil einem Comic-Heftchen entsprungen sein: Die vertrauten Fratzen von stiernackigen Wärtern, schweinegesichtigen Bullen und eines schmierig grinsenden Staatsanwalts (Rafe
Spall) sind es, in die wir da spucken möchten. Klar, es mag sich das alles so zugetragen haben und so stehen in Stevensons Memoiren, die dem Film zugrunde liegen. Aber weit wirkungsvoller als
solche Klischees und Karikaturen wäre es doch gewesen, das Offensichtliche auszusparen und die Schurken als jene hundskommunen gottesfürchtigen Spiessbürger zu zeigen, die es sich gemütlich
eingerichtet haben in ihrer Intoleranz. Aber das Subtile ist definitiv nicht die Sache von «Just Mercy»; da ähnelt Crettons Film sehr dem Todesstrafen-Drama «Trial by Fire» von Edward Zwick aus
dem Vorjahr, das auch immerhin aus den richtigen Motiven nichts dem Zufall oder der Vorstellungskraft des anfeuernd auf seiner Seite stehenden Publikums überlassen wollte: Grösstenteils makellos
gemacht zwar, aber eben auch vollständig überraschungsfrei sind diese genreregelkonformen Muster-Streifen. Das reicht zwar locker zum soliden Crowdpleaser, hallt dann aber nicht derart nach, wie
es das Material verdient hätte. Doch noch über den Durchschnitt gehievt wird «Just Mercy» dann aber von seinen Stars: von Oscar-Preisträger Jamie Foxx, der sich als ausgemergeltes Justizopfer zu
seiner besten Leistung seit Jahren aufschwingt; und von Michael B. Jordan («Creed»), der sich in ungewohnter Zurückhaltung übt und abermals seine Starpower unter Beweis stellt, wenn er mit einem
einzigen Blick weit mehr auszudrücken vermag als in all den pastoralen Reden, die er hier halten muss. Jordan ist es am Ende zu verdanken, dass der bisweilen arg ehrfürchtige Film sein Hauptziel
packt: dem legendären und ungeheuer populären Aktivisten Bryan Stevenson ein würdiges Denkmal zu errichten.