Sag mir, wo die Mädchen sind

Bei ihrem Fictiondebüt mit dem atmosphärischen Netflix-Thriller «Lost Girls» erzählt Dokfilmerin Liz Garbus nicht nur eine spannende wahre Geschichte; sie hat auch eine wichtige Botschaft.

 Netflix

von Sandro Danilo Spadini

So ein Disziplinenwechsel ist nicht ohne – nicht jeder kriegt das so geschmeidig gebacken wie eine Mikaela Shiffrin. Im Kino etwa hat es sich oft als tückisch erwiesen, wenn gefeierte Dokfilmer sich für einmal im Fictionfach versuchten. Michael Moore hat es einst mit einer Politsatire gewagt, Barbara Kopple («Harlan County U.S.A.») mit einem Jugenddrama, Andrew Jarecki («The Jinx») mit einer Krimiromanze – drei Koryphäen ihrer Gilde, und bei keiner hat es so richtig hingehauen. Mit Liz Garbus steht nun die Nächste in fremden Fictiongefilden am Start; keines der Schwergewichte zwar, aber mit 20 Jahren Erfahrung im Rucksack und etwa einer erhellenden Arbeit über das Schachgenie Bobby Fischer im Portfolio. Und Garbus legt in dem auf einem Sachbuchbestseller fussenden Serienkiller-Thriller «Lost Girls» denn auch gleich mächtig cineastisch los: Was wir in der Startszene sehen, ist eine bis zur Besinnungslosigkeit verängstigte junge Frau, die im Licht eines Autoscheinwerfers in die Nacht torkelt und taumelt; und was wir dazu hören, ist eine sanfte Frauenstimme, die ein Kinderlied singt. Klar, Garbus ist nicht die Erste, die mittels maximal geöffneter Bild-Ton-Schere versucht, namenloses Grauen zu erzeugen; mit wohligem Schaudern erinnert man sich doch, wie Dean Stockwell damals in David Lynchs «Blue Velvet» im Puff unter lauter Psychopathen eine Playback-Version von Roy Orbisons «In Dreams» schmalzte. Aber es ist ein starker Auftakt – einer, der ganz schön in die Knochen fährt und so die Hoffnung nährt, Garbus möge es hier besser laufen als ihren prominenteren Vorgängern.

Von der Polizei abgespeist

Die junge Frau ist Shannan Gilbert. Mit zwölf ist sie von daheim weg, die zu junge Mutter wollte sie nicht mehr, war überfordert mit dem Drama, den bipolaren Schüben. Jetzt aber ist Mari (Amy Ryan) beunruhigt: Ihre älteste Tochter werde vermisst, heisst es; seit Tagen habe sie niemand gesehen, Anrufe gehen zur Voicemail. Das Letzte, was man von ihr vernommen hat: ein nächtlicher Schrei um Hilfe, nachdem sie in einer Gated Community auf Long Island, New York, von einem Kunden gekommen ist. Die Polizei indes ist nicht so besorgt – Shannan nämlich ist im Sexgewerbe tätig und mithin in einem «Hochrisiko-Business», wie lapidar verlautbart wird. Die leidlich verhüllte Botschaft dahinter: Man hat Besseres zu tun. Also packt Mari selbst an; sie kennt das ja, schuftet in zwei Jobs, auf dem Bau und in einem Diner, und kommt trotzdem kaum über die Runden. Und als dann in einem Park die verwesten Leichen von vier weiteren Frauen aus dem Sexgewerbe gefunden werden, schwingt sie sich auch noch zur Fürsprecherin dieser «Lost Girls», dieser verlorenen Mädchen, auf: Sie kämpft mit rustikalem Nachdruck dafür, dass sie und ihre Shannan nicht auf «Sexarbeiterinnen», «Prostituierte», «Nutten» reduziert werden, wie das die Medien tun, wie das die Polizei tut; sie beharrt darauf, dass man sie als Töchter und Schwestern, als Menschen wahrnimmt.

Denkanregung statt Nervenkitzel

Es ist ein Höllentempo, das Garbus anfangs anschlägt: bis die Eckpfeiler des um das Jahr 2010 verorteten Falls des «Long Island Killer» eingeschlagen sind. Nach dieser geschäftigen ersten halben Stunde jedoch, nachdem sie ihren Sinn für Erzählökonomie untermauert hat, bremst sie ab und bringt den Plot öfters an den Rand des Stillstands. Das Kriminalistische tritt nun bisweilen zur Seite oder in den wolkenverhangenen Hintergrund. Garbus ist zwar sehr wohl prioritär am Mörderrätsel gelegen, an dessen Fakten und Indizien – da ist sie ganz Dokfilmerin. Aber sie hat eben auch diese Botschaft mitgebracht, die sie Mari mit Vehemenz und steigendem Verdruss überbringen lässt: nicht nur wenn sie mit Angehörigen der Opfer deren Andenken schützt, sondern auch, wenn sie soziale Scheinheiligkeit entlarvt oder Fehler der Polizei aufdeckt, deren Schlampereien und schlimmer noch deren Desinteresse. Dafür stellt Garbus nicht nur den detektivischen Eifer und sogar die chronistische Pflicht zurück; sie nimmt auch in Kauf, dass das durchaus auf Kosten der Spannung geht. Wenn auch nicht des Interesses. Denn da ist als Fels in der Brandung an der Küste von Long Island diese Amy Ryan, die hier auf den noch frischen Spuren Sienna Millers im artverwandten Krimidrama «American Woman» wandelt. Sie lebt für solche Rollen: zähe, vom Leben geschlauchte Frauen, die sich im Schattendasein durchboxen und in Graubereichen überdauern. Eine solche Heldin und keine andere braucht dieser smarte Thriller, der diese Schatten und das Grau in eine hochatmosphärische Melancholie und Aufnahmen mit einem Gespür für die naturschöne Kulisse verpackt. Das, keine Frage, ist Liz Garbus sehr schön gelungen.