Von Sandro Danilo Spadini
Es sind unsichere Zeiten, die wir gerade durchleben – und zugleich maximal berechenbare. Selten jedenfalls schien es einfacher als heute, die Emotionen der Leute in die gewünschte
Richtung zu lenken; das Einzige, was es für exakt vorhersagbare extreme Ausschläge auf der Gefühlsskala noch braucht, ist ein Trigger-Stichwort. Wenn jetzt also, sagen wir, ein Spielfilm
herauskommt, der zwar sachlich, aber empathisch wohlgesinnt zeigt, wie ein amerikanischer Teenager eine Abtreibung durchführen lässt, so kann man Gift darauf nehmen, dass zumal in dessen
Entstehungsland das allergrösstenteils linksliberal eingestellte Feuilleton diesen Streifen besinnungslos euphorisch für seine Huldigung weiblicher Selbstbestimmung und Selbstermächtigung
abfeiern wird – und dass der im Netz wütende konservative Mob geifernd Zeter und Mordio schreien und in Grossbuchstaben denselben Film als feministisches Machwerk abkanzeln wird. Dazwischen geht
heute nichts mehr. Und so ist es denn auch nur logisch, dass Eliza Hittmans
«Never Rarely Sometimes Always» auf der Filmbewertungs-Website Metacritic ein Kritiker-Score von überirdischen 91 Punkten hält und
daneben ein User-Score – die Skala reicht hier von 0 bis 10 – von unterirdischen 0,6 Zählern. Willkommen in der heutigen Realität – oder besser: den heutigen Parallelrealitäten.
Eine prosaische Welt
Der schlechte Witz an der Sache ist, dass Hittmans in Berlin und Sundance prämierter Film gar nicht übermässig polarisierend politisiert. Vielmehr schildert, ja dokumentiert er mit beinahe
klinischer Nüchternheit, wie die 17-jährige Autumn (Sidney Flanigan) in der Schule gemobbt wird. Wie sie sich deprimiert zurückzieht. Wie sie ihre Schwangerschaft entdeckt. Wie sie in der
Frauenklinik mit einem reaktionären Anti-Abtreibungs-Video zu bekehren versucht wird. Wie sie sich im Internet kundig macht. Wie sie mit ihrer Cousine Skylar (Talia Ryder) per Bus nach New York
fährt. Wie sie dort in der Abtreibungsklinik beraten wird. Und wie sie die Sache schliesslich durchzieht. Es ist das denn auch kein flammendes Plädoyer für das Recht auf Abtreibung und – wiewohl
schon in der Eröffnungsszene ein Schwenk in die Fünfzigerjahre gemacht und so der Bogen zu einem rückständigen Sexualmoralverständnis geschlagen wird – auch keine allzu scharfe Anklage der in den
USA wie ehedem wuchernden Bigotterie; zuvörderst erzählt Hittmans Drittling eine zutiefst persönliche Geschichte, ein Einzelschicksal, dessen minutiöse, ungeschminkte Schilderung eben nicht mit
lauter Attitüde auf Universalität pocht. Ein reservierter Film ist das, so wie seine Heldin reserviert ist. Und so wie diese pragmatisch denkt, inszeniert Hittman ihr Drama betont pragmatisch:
ohne schmückende Schmankerln, ohne visuelle Extravaganzen. In naturalistischen Bildern wird hier eine durch und durch prosaische Welt entworfen: die wirtschaftlich versehrte Gegend im ländlichen
Pennsylvania; das garstige Winterwetter; die schnörkellose Sprache; der triste Job im Supermarkt; der kühle Umgang mit den Mitmenschen; die grobe, chauvinistische Männerwelt vom pöbelnden Jock
über den feindseligen Stiefvater, den schmierigen Kunden und den zudringlichen Chef bis zum wichtigtuerischen Pseudo-Casanova im Bus; aber auch die Abwesenheit von Eleganz in Kleidung, Frisuren,
Make-up. Kein Chic weit und breit, auch kein Shabby Chic. Und selbst der Szeneriewechsel von der öden Wüste Pennsylvanias zum pulsierenden Dschungel New Yorks bringt höchstens einen Hauch Hektik,
aber keine glitzernde Zerstreuung in den Film und lockt die Mädchen kaum aus der Reserve: Ihre Nacht im Big Apple verbringen Autumn und Skylar in einer speckigen Karaoke-Bar. Einzig der spärlich
eingesetzte sphärische Soundtrack sorgt bisweilen für eine leicht träumerische Note.
Trotzdem nicht deprimierend
Diese formvollendete Kongruenz von innen und aussen, von Darstellung und Dargestelltem, mag zwar noch kein hinreichender Grund für den kollektiven Kritikerrausch sein; es ist aber doch etwas, was
eine gewisse Meisterschaft Hittmans verrät, welche die auf Teenagerstoffe spezialisierte 40-jährige New Yorkerin freilich schon vor drei Jahren in «Beach Rats» angedeutet hat. Und es ist nicht
das einzige Kunststück, das ihr hier gelungen ist. Irgendwie hat sie es auch noch fertiggebracht, dass dieses ernste Sozialdrama weder bleischwer noch deprimierend wirkt – dass sich immer wieder
auch Licht und Hoffnungsschimmer ihren Weg durch das Grau bahnen, dass bei all den alltäglichen Zumutungen und Widerwärtigkeiten, denen junge Frauen ausgesetzt sind, auch ab und zu Menschlichkeit
durchblitzt: Seien es die professionelle Hilfsbereitschaft in der Abtreibungsklinik oder gelegentliche Höflichkeit und zufällige Herzlichkeit; seien es die weibliche Solidarität und das Band der
Freundschaft oder die Tatsache, dass sich Autumn trotz allem nicht unterkriegen lässt. «Never Rarely Sometimes Always» ist ein kleiner Film, der die kleinen Gesten beherrscht – und das ist
es, was ihn so mächtig, was ihn in gewissen Momenten so gross macht. «War es schmerzhaft?», fragt Skylar zum Schluss. «Nur unangenehm», antwortet Autumn lakonisch. Für den Film trifft das so gar
nicht zu. Er war nie unangenehm – und hat bisweilen ziemlich wehgetan.