Von Sandro Danilo Spadini
Eine Psychiaterin, die selbst ein wandelndes Schlamassel ist – das ist schon mal nicht die originellste aller Ideen. Aber was Sibyl (Virginie Efira), die jetzt lieber wieder
Romancière sein möchte statt Seelenklempnerin, da mit dieser neuen Patientin anstellt, wie sie sämtliche Grenzen überschreitet, allmählich ins Reich der Wirrnis abgleitet und endlich jegliche
Bodenhaftung verliert – das ist dann doch eine verlockende Versuchsanordnung. Zumal die immerzu aufgelöste Jungaktrice Margot (Adèle Exarchopoulos) da mit Komplikationen kommt, die Sibyls eigene
überwunden gewähnte Chaosvergangenheit widerspiegeln und vertrieben oder halt gebändigt geglaubte Dämonen heraufbeschwören. Doch die labile Psychiaterin erfasst die fesche Fremde nicht nur als
Alter Ego und Projektionsfläche auf der Präsentiercouch, sondern auch als die perfekte Heldin für ihr Comeback-Buch. Also fängt sie, die fast allen ihren übrigen Patienten den Laufpass gegeben
hat, nun doch tatsächlich an, Margot heimlich aufzunehmen, zwecks Inspiration und späterer künstlerischer Verwertung. Ein Tabubruch sondergleichen, ein Sakrileg natürlich; und dass Sibyl dabei
eine regelrechte Obsession entwickelt und ihr vollends die Orientierung abhandenkommt, sie bald nicht mehr weiss, wo ihr der Kopf steht, was falsch ist, was richtig ist, war real ist, was fiktiv
ist, macht die Sache zwar auch nicht unbedingt gesünder, aber für uns sicherlich interessanter. So gäbe es von hier aus nun doch ganz viele Richtungen, in die sich dieses Bourgeoisie-Drama
spannungsvoll entwickeln könnte – und Regisseurin Justine Triet schlägt sie in einem Anfall von Übermut leider allesamt ein, schaut sich flüchtig um und kurz an, was es da zu holen gibt, um dann
auf halbem Weg jeweils rechtsumkehrt zu machen und ohne Kompass, dafür mit ein paar gewitzten, aber unterentwickelten Einfällen im Gepäck zurück auf Start geradeso orientierungslos wie ihre
Heldin in die zusehends dünnere Luft zu gucken.
Formidable Hauptdarstellerin
Eine – im Guten und sowieso im Schlechten – maximal französische Angelegenheit ist
«Sibyl», die dritte Kinoarbeit von Justine Triet («Victoria»). Und eine ziemlich unfokussierte, unstrukturierte Sache dazu, zu der
die Absolventin der Staatlichen Hochschule der Schönen Künste in Paris als Co-Autorin auch ein Skript beigesteuert hat, das überfrachtet, gleichsam unredigiert und nicht nur in der sich mehr in
Gütschen als im Fluss entwickelnden Narration fahrig wirkt, sondern auch nie lange genug bei ihren (Neben-)Figuren bleibt, als dass diese relevant werden und ihr Dasein rechtfertigen könnten.
Immerhin hat der Film mit Virginie Efira eine weitestgehend formidable Hauptdarstellerin mit einer dominanten Präsenz, die das flatterhafte Geschehen ein wenig zu erden vermag. Efira hat hier im
Grunde sogar zwei Figuren zu spielen: die Sibyl von heute, die disziplinierte Analytikerin, die ihr Alkoholproblem unter Kontrolle gebracht und sich eine gefestigte Existenz samt Familie
aufgebaut hat; und die Sibyl von gestern, die wilde Kreative, die sich Hals über Kopf ihren Leidenschaften hingibt und mit ihrem schmerzlich Verflossenen (Niels Schneider) auf Toiletten und
Fussböden hemmungslosen Sex hat, wie man ihn im US-Kino seit den frühen Nullerjahren nicht mehr bestaunt hat. Es ist dieses Duale, das Triets Film auf allen Ebenen durchzieht: Gegenwart und
Vergangenheit. Selbstzerstörung und Selbstbeherrschung. Realität und Fiktion. Genie und Wahnsinn. Wahrheit und Lüge. Rausch und Nüchternheit. Beruf und Berufung. Kreativität und Beständigkeit.
Eigenes und Fremdes. Tragik und Komik. Das ist ganz schön viel, und es ist, wie sich eher früher als später weist, zu viel und führt nach anfänglicher Konfusion bald einmal zu Verdruss und
Überdruss und sodann zu einer gewissen Gleichgültigkeit und schlimmer noch: einer Fadesse, die wiederum im schlechtesten Sinn typisch französisch ist.
Von allem ein bisschen
Dass «Sibyl» ein derart zermürbender und letzten Endes banaler Film geworden ist, hätte nicht sein dürfen. Wie ihre Heldin die Geschichte ihrer Patientin nach Inspiration schürft, durchforstet
Triet die Filmgeschichte nach Orientierungshilfen und findet sie, natürlich, bei Woody Allen, bei Bergman und Rossellini, bei Hitchcock und De Palma. Das wäre ja nicht die schlechteste Mischung;
doch zappt ihr Film nicht nur zwischen den Handlungssträngen und dem Gestern und dem Heute, dem Imaginierten und dem Erlebten hin und her, sondern auch noch im Ton: In dem einen Moment versucht
er einen dramatischen Kampf gegen Sucht und Obsessionen aufzurollen und den riskanten künstlerischen Schöpfungsprozess mit all der üblichen wichtigtuerischen Selbstgefälligkeit zu zelebrieren; im
nächsten Augenblick interessiert er sich Herzlichkeit heischend für das Thema Mutterschaft; und im übernächsten Akt möchte er den Psychoanalysebetrieb auf die Schippe nehmen, was sich freilich in
einem Humor erschöpft, der gerne schwarz wäre, aber bestenfalls beige ist. Und dann sind da noch all die Chancen, die Triet liegen lässt. Etwa auf Stromboli, wo ein Film im Film abläuft, den
Margot an der Seite ihres Liebhabers (Gaspard Ulliel) und unter der Regie von dessen Partnerin (Sandra Hüller) dreht und in den – wirklich? – dann auch Sibyl reingezogen, reingesogen wird: Mit
dem cinephilen Setting (Rossellini!) weiss Triet gerade auch visuell so wenig anzufangen wie mit all den Gegensätzen und Doppeldeutigkeiten, die in meist blassen und betont profanen Bildern
geradezu entkräftet werden. Zu wenig genutzt wird zudem das Potenzial von Efiras Co-Stars: Adèle Exarchopoulos («La vie d’Adèle») ist vor allen Dingen mit Schluchzen beschäftigt; Sandra Hüller
(«Toni Erdmann») ist als wild entschlossene deutsche Regisseurin zwar eine nervöse Naturgewalt, überspannt den Bogen bisweilen aber auch; und die Männer bleiben sämtlich blosse Dekoration. Dass
sich Triet am Ende kapitulierend mit dem Standardrepertoire bescheidet und Sibyl auch noch den obligaten Rückfall in den Suff, die programmierte Entblössung und den angekündigten Zusammenbruch
durchstehen lässt, rührt dann kaum mehr. Es ist der mitnichten krönende, aber quasi logische Abschluss eines Films, der weder hinreissend ist noch allzu viel hergibt. «Alles, was ich mache, ist
nichts», sagt Sibyl einmal. So arg ists mit Justine Triets Film zwar nicht gekommen. Aber bei aller Geschäftigkeit und Geschwätzigkeit hat der letztlich doch erstaunlich wenig zu sagen.