Von Sandro Danilo Spadini
«Etwas stimmt nicht mit mir, in mentaler Hinsicht», sagt Scott (Pete Davidson) zu seiner langjährigen Kollegin und gelegentlichen Bettgesellin Kelsey (Bel Powley) recht bald einmal.
Und er sagt das in einem Ton, der vermuten lässt, dass er sich längst damit arrangiert hat: dass er sicher auch wegen des frühen Tods des im Feuerwehrdienst umgekommenen Vaters kiloweise
Antidepressiva schlucken muss; dass er an ADS leidet; dass er Morbus Crohn hat. Und dass er, wie er dann noch beifügt, Angst vor sich selbst hat. Jedenfalls scheint ihn das alles nicht weiter zu
bekümmern; ja es scheint, als habe seit dem Dude niemand mehr einen derart entspannten Umgang gepflegt mit seiner Unvollkommenheit. Das mag zu einem stattlichen Teil daran liegen, dass Scott den
lieben langen Tag bekifft ist – um die Dinge zu entschleunigen, wie er sagt, und wohl auch, um diese grelle laute Welt zu dimmen und zu dämpfen. Aber es wird auch so sein, dass dieser 24-jährige
tattooübersäte Tunichtgut, der noch immer bei seiner Mutter (Marisa Tomei) haust, einiges verdrängt, sich den Tatsachen verweigert, sich dem Leben nicht stellt. Lieber hängt er mit
Gleichgesinnten ab, lümmelt vor der Glotze oder auf der Strasse herum, verschwendet die Tage und verprasst seine Jugend. Und das ganz gerne zu Hause, in seiner «Hood», in seinem natürlichen
Habitat – daheim in Staten Island. «Wir gehen nicht raus. Ich liebe es hier. Es ist sicher.» So sieht Scott das. Und es kratzt ihn dabei null und nichts, dass seine Heimat so ziemlich der
uncoolste Ort an der gesamten amerikanischen Ostküste ist. Klar wird da mal gemosert. «Warum können wir nicht so cool sein wie Brooklyn?», lamentiert Kelsey etwa. «Wir sind der einzige Ort, auf
den New Jersey herabschaut», doppelt Scott nach. Und man möchte ergänzen: Staten Island ist obendrein jener Stadtteil von New York, der Donald Trump gewählt hat – mit über 15 Prozentpunkten
Vorsprung! Und trotzdem meint Kelsey dann: «Ich liebe Staten Island!»
Semiautobiografische Geschichte
Überhaupt Liebe: Die weht in
«The King of Staten Island» nicht nur dem biederen Schauplatz von überall her entgegen, sondern auch den zahllosen und
sämtlich mit Engagement gezeichneten komischen Käuzen und sonstigen Vögeln, die diesen bevölkern: diesen «tough cookies», zäh und derb, mit ihren losen Mundwerken und den lockeren Schrauben. Und
ein Wunder ist das nicht – hat doch der «Saturday Night Live»-Comedian und Kinonovize Pete Davidson, der hier nicht nur die Hauptrolle spielt, sondern auch das Skript mitverfasst hat, diese
Geschichte zu einem guten traurigen Teil tatsächlich gelebt. Auch er ist im verhöhnten Stiefkind unter den fünf New Yorker Boroughs aufgewachsen, hatte mit Suizidgedanken zu kämpfen und
siebenjährig seinen Vater verloren, der als Feuerwehrmann am 11. September 2001 sein Leben liess. Höchstens semiautobiografisch ist das indes, weil da mit dem Stand-up-Comedian Dave Sirus noch
ein zweiter und mit Judd Apatow vor allem noch ein dritter Autor seinen grob-kernigen Senf dazugegeben hat, wobei der Komödienkönig erstmals seit fünf Jahren und dem Zwerchfellzerfetzer
«Trainwreck» auch noch Regie geführt hat. Und das notabene derart stilecht, dass «The King of Staten Island» als prototypischer Eintrag im Apatow-Œuvre durchgeht. Das engste
Verwandtschaftsverhältnis pflegt dieser 136-Minuten-Brocken dabei mit der gar noch länger geratenen Kuriosität «Funny People» von 2009. Auch dort feierte Apatow das Uncoole, pflegte das
Unpolierte, zelebrierte geradezu das Unfertige und erweckte so den Eindruck, der Mangel an Geschmeidigkeit in der Inszenierung und die fehlende Fokussiertheit in der Erzählung seien durchaus
gewollt – oder aber dass ihm das schlicht scheissegal war. Eine Nonchalance, die dann ja auch allerbestens zum wenig heldenhaften, aber gerade deswegen umso charmanteren Scott passen würde. Der
hat zwar sehr wohl Träume und eine gewisse Ambition als Tatöwierer – nimmt es dann aber maximal stoisch zur Kenntnis, wenn der schwarze Kumpel, dem er einen herrlich windschiefen Obama gestochen
hat, seine Arbeit «inkonsistent» schimpft und seine Schwester auf dem Unterarm der Mutter ausschaut wie ein Cockerspaniel. Das Einzige, was ihn aus der Ruhe bringt, was ihn aus der Lethargie
reisst und die aufgestaute Wut entweichen lässt, ist Ray (Bill Burr), der Neue der Mutter, ein Feuerwehrmann wie der tote Vater, der Held, der Heilige, der in Wahrheit aber auch ein Hallodri und
Halunke war. Dieser frische Wind, ja diese steife Brise in seinem Leben zwingt ihn denn auch, den längst fälligen nächsten Entwicklungsschritt zu tun, sprich: Verantwortung zu übernehmen, in die
Welt rauszugehen, erwachsen zu werden.
Glanzlichter und Herzblut
Einen ebensolchen nächsten Schritt erwarten einige schon länger auch von Apatow. Reifer solle er werden, meinen seine Kritiker, ernster – derweil seine Fans panisch protestieren: Bloss nicht!
Eine echte Entwicklung ist jetzt aber auch in «The King of Staten Island» nicht auszumachen. Die nie endende Pubertät, sie ist auch hier das launige Leitmotiv. Unter all den Albernheiten, die
immerhin weit weniger fäkalienfixiert und unterleibsorientiert ausfallen, als zu befürchten stand, bei allen komödiantischen Glanzlichtern, schreiberischer und schauspielerischer Natur, und in
dem ungebremsten Schwall an popkulturellen Referenzen verbirgt sich wie bei «Funny People» freilich ein warmherziger und bittersüsser Film. Ein nicht nur langer und reichhaltiger, sondern auch
reicher Film, eine regelrechte Reise, die keine Längen und Füller zulässt und auf der Pete Davidson ein geradeso grandioses Kino-Hauptrollendebüt feiert wie Amy Schumer damals in «Trainwreck».
Ein Film schliesslich, dem ein sympathisches Vertrauen in seine ungehobelt menschelnden Figuren innewohnt: in das Gute in ihnen. Und dass sie am Ende dann doch das Richtige tun werden. Da steckt
fraglos literweise Herzblut drin. Und tatsächlich: sogar ein wenig Lebensweisheit.